In der Diskussion zur Weiterentwicklung der Digitalisierung und insbesondere der Datenverarbeitung in Milchviehbetrieben taucht immer wieder das Stichwort Künstliche Intelligenz (KI) auf. Es kann die Frage gestellt werden, ob es für die verschiedenen Ansätze des Precision-Dairy-Farming immer Methoden der KI bedarf. Können einfachere Methoden ebenso funktionieren, oder sind sie unterlegen?
Hierzu wurde an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel eine Studie zum Einsatz einfacher Methoden aus dem Bereich der statistischen Prozesskontrolle durchgeführt, um Gesundheitsrisiken frühzeitig zu erkennen und so möglicherweise schwere Krankheitsverläufe zu vermeiden. Die Studie von Dittrich und Kollegen wurde 2022 veröffentlicht. Dahinter steckt das Ziel, das Risiko für eine Erkrankung aus Verhaltensweisen abzuleiten, diese mittels multivariater kumulativer Summen-Control-Charts zu überwachen und Gesundheitsprobleme so frühzeitig aufzudecken.
Hintergrund der Studie
Die Basis für die vorliegende Studie ist das „Sickness Behaviour“, das alle Veränderungen des Verhaltens von erkrankten Säugetieren beschreibt. Erkrankt eine Milchkuh etwa an einer Mastitis, beginnt das Immunsystem, die Erreger zu bekämpfen. Dabei werden verschiedene Botenstoffe, die Zytokine, gebildet. Sie wirken sich unter anderem auf das Verhalten aus, indem sie zum Beispiel den Appetit der erkrankten Kuh beeinflussen.
Reduzierte Futteraufnahme und folglich reduzierte Wiederkauzeiten sind typische Verhaltensänderungen, die dem „Sickness Behaviour“ zugeordnet werden. Nicht umsonst basieren viele Früherkennungssystem bereits auf dem Wiederkauverhalten. Zusätzlich zeigen sich Veränderungen in der Tieraktivität bis hin zum Ausbleiben von Brunstverhalten und entsprechend gesteigerten Ruhezeiten. Solche Veränderungen sind auch dann zu beobachten, wenn die Milchkuh nicht an einer offensichtlichen Entzündung durch eingedrungene Erreger erkrankt ist, sondern Stoffwechselerkrankungen wie Ketose beziehungsweise Klauenerkrankungen oder Verletzungen von Gewebe, zum Beispiel Technopathien, vorliegen. Wichtig ist es zu betonen, dass jede Verhaltensänderung sehr individuell ausgeprägt ist, denn jede Kuh reagiert in ihrem eigenen Maße auf eine Erkrankung.
Tiere, Technik und Datenerfassung
Auf einem Milchviehbetrieb nahe Chemnitz wurden 480 melkende Kühe mit je zwei Beschleunigungssensoren am Halsband und am rechten Vorderbein ausgestattet. Darüber wurden die Verhaltensweisen Aktivität als Anzahl Schritte und Aktivitätsdauer, Liegen, Stehen, Futteraufnahme- und Wiederkaudauer beobachtet. Die Daten wurden im Zeitraum von September 2018 bis Dezember 2019 gesammelt. Insgesamt konnten so Daten von 618 Kühen in 791 Laktationen mit rund 140.000 Kuhtagen zusammengetragen und verarbeitet werden. Neben den Verhaltensbeobachtungen wurden alle Diagnosen des Tierarztes sowie die Dokumentation der Klauenbehandlungen des betriebseigenen Klauenpflegers berücksichtigt. Diese Dokumentation diente als Grundlage für die gesamte Entwicklung des Früherkennungssystems.
Methoden zur Früherkennung
Aus den gesammelten Daten wurde mit vergleichsweise einfachen Methoden der Statistik und statistischen Prozesskontrolle ein Algorithmus zur Früherkennung entwickelt. Dieser sollte fähig sein, die dokumentierten Erkrankungen beziehungsweise Diagnosen anhand von Verhaltensveränderungen frühzeitig, also ein bis fünf Tage früher als dokumentiert, zu erkennen. Dazu wurden die Verhaltensbeobachtungen zu Verhaltensmustern zusammengefasst. Aus den gezählten Schritten und der Aktivitätsdauer wurde das Verhaltensmuster Aktivität, aus Liegen und Stehen das Verhaltensmuster Ruhen und aus Futteraufnahme- und Wiederkaudauer das Verhaltensmuster Fressen zusammengefasst. Mithilfe eines einfachen logistischen Modells wurde aus jedem dieser Verhaltensmuster ein tägliches Risiko der Erkrankung für jede Kuh aus den gesammelten Daten abgeleitet.
Unter Nutzung dieser Erkrankungsrisiken wurden multivariate kumulative Summen-Control-Charts genutzt, um die drei Erkrankungsrisiken gleichzeitig beobachten zu können und das Überschreiten der Grenze zwischen gesund und krank zu erkennen. Diese Grenze wird im Control-Chart als Kontrollgrenze dargestellt. Die Leistung des Algorithmus wurde anschließend mittels der Größen Sensitivität, Spezifität und Falsch-positiv-Rate beurteilt. Die Sensitivität beschreibt dabei den Anteil richtig erkannter Erkrankungen. Hingegen gibt die Spezifität an, wie viele Tage ohne Diagnose erkannt wurden. Abgeleitet davon drückt die Falsch-positiv-Rate aus, wie oft Alarme an Kuhtagen erzeugt wurden, an denen keine Erkrankung vorlag.
Ergebnisse der Studie
Der entwickelte Algorithmus war in der Lage, 70 bis 81 % aller Erkrankungen früher zu erkennen als dokumentiert. Häufig wurden ein bis zwei Tage vor der Diagnose bereits Alarme erzeugt, sodass diese Kühe früher hätten behandelt werden können. Diese Sensitivität des Algorithmus zeigte sich für alle Erkrankungen gleichermaßen.
Neben den richtig erkannten Erkrankungen ist die Beurteilung, inwiefern falsche Alarme erzeugt werden, entscheidend für die Qualität eines Früherkennungssystems. Wissenschaftliche Ansätze zielen in der Regel darauf ab, so wenig falsche Alarme wie möglich zu erzeugen. Die beschriebene Studie zielte darauf ab, dass an weniger als 10 % der beobachteten Kuhtage ein Alarm erzeugt wurde. Wie in der Tabelle zu erkennen, werden mit steigender Sensitivität mehr falsch positive Alarme erzeugt.
Eignung für die Praxis
Aufgrund der Einfachheit des entwickelten Algorithmus hat das beschriebene Vorgehen Potenzial, in der Praxis eingesetzt zu werden. Diese Einschätzung ist jedoch nur mit Einschränkungen richtig, da die Entwicklung des Algorithmus ausschließlich auf der Betrachtung historischer, sprich retrospektiver Daten basiert. Eine realistische Einschätzung bedürfte weiteren Trainings an tagesaktuellen Beobachtungen.
Nichtsdestotrotz zeigt sich innerhalb eines solchen Früherkennungssystems, welche Eigenschaften essenziell für den Einsatz in der Praxis sind. Insbesondere die Kennzahlen Sensitivität und die Falsch-positiv-Rate sind hier entscheidend. Schafft das System es nicht, einen Großteil der Erkrankungen zu erkennen, wird der praktische Einsatz durch den Verlust des Vertrauens des Landwirtes in das System gekennzeichnet sein.
Zuverlässigkeit und wenig falsche Alarme sind entscheidend dafür, dass der Einsatz gelingt. Steigt etwa die Zahl der falsch positiven Alarme, also die Falsch-positiv-Rate, stark an, so müssen nahezu täglich viele Kühe kontrolliert werden, die augenscheinlich keinerlei Erkrankung haben. Auch wenn gesunde Kühe das Ziel eines jeden Tierhalters sind, so sollte ein unterstützendes Früherkennungssystem für Erkrankung auch genau dies tun.
Fazit
Einfache Methoden, die zum Beispiel der statistischen Prozesskontrolle entlehnt sind, eignen sich für die Entwicklung einfacher Früherkennungssysteme zur Gesundheitsüberwachung. Dies zeigt die beschriebene Studie von Dittrich und Kollegen deutlich auf. Allerdings handelt es sich bei der Studie um eine Betrachtung historischer, also retrospektiver Beobachtungen. Für den praktischen Einsatz bedürfte es weiteren Trainings des Algorithmus. Nichtsdestotrotz konnte aufgezeigt werden, wie wertvoll die Verhaltensdaten aus eingesetzten Sensoren sein können und wie viel Potenzial sie für einfache und komplexe Früherkennungssysteme in sich tragen.