„Im Krieg ist die Wahrheit das erste Opfer“ – dieser Ausspruch wird dem US-Senator Hiram Johnson schon im Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg zugeschrieben und ist inzwischen viel zitiertes Allgemeingut geworden. Kaum jemals, jedenfalls während unserer Erlebenszeit, hat sich dieser Satz so sehr bewahrheitet wie im gegenwärtigen Krieg Wladimir Putins gegen die Ukraine.
Ein Krieg, der in Putins eigenem Land unter scharfer Strafandrohung nicht Krieg genannt werden darf. Massenhafte Bombardierungen von Wohnvierteln, Krankenhäusern und Schutzbunkern, die lediglich militärische Ziele sein sollen. Ein ukrainischer Präsident von jüdischer Herkunft mit Naziopfern in seiner Ahnenreihe, der angeblich ein Faschist ist. Und wenn Kriegsverbrechen in der Ukraine nicht mehr zu leugnen sind, dann soll sie deren Regierung am eigenen Volk begangen haben, um das russische Militär zu diskreditieren. Fatal, dass anscheinend ein Großteil der russischen Bevölkerung diese Tatsachenverdrehungen glaubt, vielleicht aber auch nur eingeschüchtert vorgibt, sie zu glauben. Wenn die Wahrheit der simpelsten Aussagen so mit Füßen getreten wird, offenbart sich die Lüge umso deutlicher – jedenfalls für die, die sehen können und zu sehen imstande sind.
Doch haben nicht auch wir, als Gesellschaft, seit Jahrzehnten den Wahrheitsbegriff immer mehr verwässert? Damit meine ich nicht einmal ausgesprochene Betrüger, also diejenigen, die – ob in Wirtschaft, Politik oder Privatleben – Tatsachen zu ihrem Vorteil drehen oder mit falschen Versprechen Menschen zu manipulieren versuchen. Die hat es zu allen Zeiten gegeben und wird es immer geben. Nein, ich ziele auf den Mythos der „relativen Wahrheit“ ab, der in unserem postmodernen Zeitalter wohlfeiles Allgemeingut geworden ist.
Wer hätte nicht schon gehört oder gar selbst gesagt, dass „jeder seine eigene Wahrheit“ habe oder dass „dies deine Wahrheit, jenes aber meine Wahrheit“ sei? So wird alles eine beliebige Ansichtssache, keiner Aussage kann gültig widersprochen werden. Ein Streit der Argumente, der erkenntnisfördernd sein könnte, wird vermieden, ja gerät in den Verdacht einer unerfreulichen Störung.
Nun sind ja anderseits unter dem Zeichen der Wahrheit die entsetzlichsten Verfolgungen und Gräueltaten geschehen – die „Heiligen Kriege“ der Rechtgläubigen, die glauben, die Wahrheit gepachtet zu haben und anderen überstülpen zu dürfen, ja zu müssen. Ist es nicht ein Fortschritt der toleranten Gesellschaft, von solchen Wahrheitsansprüchen Abstand zu nehmen und jeden nach seiner Façon selig werden zu lassen, wie es der alte König von Preußen propagiert hatte? Gewiss, doch der Unterschied ist, dass es hierbei um Werte geht, um Glaubenssätze, um Weltanschauungen, um die Frage von Gut und Böse – und dabei gibt es tatsächlich keine absoluten Wahrheiten. Allein schon aus diesem Grund: Wer sollte sie objektiv gültig festlegen?
Im Bereich der Tatsachen allerdings kann man durchaus, wenn auch nicht immer, feststellen, was zutreffend ist und was nicht. Auf die Frage, ob der Postbote heute schon da war, gibt es nur eine richtige Antwort – ja oder nein –, selbst dann, wenn ich sie nicht herausbekomme. Ist das unbedeutende Kleinkrämerei angesichts wichtiger Menschheitsfragen? Im Licht des gegenwärtigen Krieges zeigt sich, dass es keineswegs so ist. Die Forschung nach Tatsachen ist vielleicht die einzige Basis, auf der wir uns jenseits von Weltanschauungen objektiv verständigen können. Wenn wir wieder der Wahrheit die Ehre geben.