Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir (Grüne) betont die sichere Versorgungslage mit Lebensmitteln in Deutschland. Er erteilt Forderungen nach einer agrarpolitischen Kehrtwende eine klare Absage. Frans Timmermans, Vizepräsident der EU-Kommission, warnt schon jetzt vor einem „historischen Fehler“, würden die Nachhaltigkeitsvorhaben im Rahmen des Green Deal nicht konsequent weiterverfolgt werden.
Die Härte dieser Aussagen erstaunt. Denn angesichts des Krieges in der Ukraine sind Denkverbote unangebracht. Die Forderung anderer Politiker ist daher richtig, die Einschränkungen in der Lebensmittelproduktion, die unter anderem mit der Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) einhergehen, zumindest auf den Prüfstand zu stellen (siehe Seiten 10 und 11).
Die Ukraine ist ein hochattraktiver Standort für Landwirtschaft. Rund 32 Mio. ha umfasst das dortige Ackerland. Das entspricht etwa einem Drittel der Ackerfläche der Europäischen Union. Gemeinsam mit Russland ist die Ukraine für rund 30 % der globalen Weizenexporte verantwortlich. Durch die Folgen des Krieges sind aktuell sowohl die Produktion als auch die Exportfähigkeit aus der Schwarzmeerregion eingeschränkt.
Laut einer Analyse von Prof. Stephan von Cramon-Taubadel von der Universität Göttingen wird die russische Invasion enorme Konsequenzen für Millionen von Ukrainern, für die Sicherheit in Europa, die Energiemärkte und auch für die Agrarmärkte und die globale Ernährungssicherheit haben. Von Cramon-Taubadel schätzt, dass die ukrainische Getreideproduktion in diesem Jahr um mindestens 35 Mio. t gegenüber 2021 sinken werde. Russlands Produktion werde zwar aller Voraussicht nach nicht betroffen sein, doch logistische und finanzielle Sanktionen würden zu Verzögerungen und Handelsumlenkungen führen, wodurch es möglicherweise auch zu einer Reduktion der russischen Getreideexportmenge kommen werde.
Die Weltmarktpreise für Getreide haben bereits historische Höchststände erreicht. Die Ernährungssicherheit in Industrieländern wie Deutschland ist zwar nicht gefährdet, aber die Inflation der Nahrungsmittelpreise wird angeheizt. Die meisten Haushalte könnten das verkraften, und einkommensschwache Haushalte, die davon besonders betroffen seien, könnten mit zielgerichteter finanzieller Unterstützung zumindest entlastet werden, so von Cramon-Taubadel.
Allerdings sei die Situation in denjenigen Entwicklungsländern besonders katastrophal, die auf Nahrungsmittelimporte angewiesen seien. Jetzt bedrohten Versorgungsengpässe und hohe Getreidepreise die Ernährungssicherheit von mehreren 100 Millionen Menschen, vor allem in Afrika und Südostasien.
Es ist daher geboten, die ernährungspolitischen Scheuklappen abzulegen und die Gemeinsame EU-Agrarpolitik zu überdenken. Es geht dabei nicht darum, alle Nachhaltigkeitsziele zu verwerfen. Maßnahmen sollten aber – wenn möglich – darauf ausgerichtet werden, die hiesige Landwirtschaft nachhaltiger und produktiver zugleich aufzustellen, anstatt die Nachhaltigkeit auf Kosten der Produktivität zu fördern.