StartNachrichtenAgrarpolitikÜberweidung kippt komplettes Ökosystem

Überweidung kippt komplettes Ökosystem

Forschungsteam unter Kieler Leitung identifiziert mikrobiologischen Grenzwert
Von Dr. Robert Quakernack
Intensive Beweidung, vor allem in der Nähe von Siedlungen, führt zur Erosion des fruchtbaren Oberbodens. Foto: Lena Becker

Das tibetische Hochland hat eine besondere Bedeutung als Weideökosystem, als globaler Kohlenstoffspeicher, für die Entstehung des Monsuns und für die Trinkwasserversorgung eines Fünftels der Erdbevölkerung. Ein internationales Forschungsteam der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU), der Universitäten Göttingen und Hannover sowie der Chinese Academy of Science hat nun erstmals auf mikrobiologischer Basis den kritischen Grenz­wert der Beweidung in der zentralasiatischen Landschaft identifiziert, ab dem eine Degradation der Weiden unumkehrbar ist.

Die Forschenden fanden heraus, dass kleinere Flächen bereits unwiederbringlich verloren sind, aber der Großteil des beweideten Gebietes noch gerettet werden könnte, wenn die Viehhaltung dort reduziert wird.

Der auf dem Tibetplateau verbreitete Kobre­siarasen ist seit Jahrhunderten an moderate Beweidung durch die Herden umherziehender No­maden angepasst. Die toten und lebenden Wurzeln des Rasens schützen die darunterliegenden Permafrostböden vor Degradation, also dem schrittweisen Verlust ihrer Ökosystemfunktionen bis hin zur Erosion. Aber in den vergangenen Jahrzehnten hat die Beweidung, vor allem in der Nähe von Siedlungen, zugenommen. Durch den Klimawandel, der die Permafrostböden tauen lässt, geraten die Kobresiarasen zusätzlich unter Druck.

Forschung auf
4.200 Metern Höhe

Die Forscher untersuchten die Böden verschiedener Standorte des Tibetplateaus, deren Weiden unterschiedlich stark degradiert waren. Sie bestimmten dafür jeweils die Kohlenstoff- und Stickstoffvorräte im Boden, die Zusammensetzung der mikrobiellen Bodengemeinschaft von Bakterien und Pilzen und die Aktivität der Bodenenzyme direkt im Feld. Ein Ergebnis: Die Kombination aus Überweidung und Klimawandel führt zu einem Rückgang der Kohlenstoffvorräte um 42 % und der Stickstoffvorräte um 33 % auf den am stärksten betroffenen Flächen. „Die Kohlenstoffverluste gehen zu zwei Dritteln auf die Erosion des fruchtbaren Oberbodens und zu einem Drittel auf einen reduzierten Eintrag von Pflanzenbiomasse sowie eine erhöhte Mineralisation zurück“, sagt die Leiterin der Studie, Prof. Sandra Spielvogel vom Institut für Pflanzenernährung und Bodenkunde der CAU. „Mit zunehmender Degradation verändert sich die Zusammensetzung der Mikroorganismen im Boden stark“, erläutert die Bodenkundlerin. Zunächst bauten die Mikroorganismen im Boden vor allem leicht abbaubare Bestandteile der abgestorbenen Wurzeln ab, hierfür produzierten sie hydrolytische Enzyme. Erst wenn nicht mehr genug leicht abbaubares Material vorhanden sei, würden auch die stabilisierenden, verholzten Wurzelrückstände abgebaut. Diesen Wendepunkt erkenne man daran, dass nun abrupt oxidative Enzyme im System dominierten. Fehle dann erst einmal die schützende Wurzeldecke, nehme auch die Erosion zu, wodurch der verbleibende Oberboden komplett abgetragen werde.

Entwicklungen sind
noch aufzuhalten

Eine Überschreitung dieses identifizierten Grenzwertes der Beweidung verändert den Forschern zufolge das komplette Ökosystem. Am „dritten Pol der Erde“ neben dem Nord- und dem Südpol habe eine Freisetzung des im tibetischen Hochland gespeicherten Kohlenstoffs das Potenzial, den globalen CO2-Speicher zu beeinflussen. „Durch die Erosion des fruchtbaren Oberbodens liegt der Unterboden frei. Diese vegetationsfreie Erdoberfläche reflektiert die Sonnenstrahlen stärker, außerdem verändert sich die Verdunstung und dadurch der gesamte Wasserhaushalt des betroffenen Gebietes“, erläutert Spielvogel. Dies wiederum beeinflusse nachweislich die Wolkenbildung und weitere atmosphärische Eigenschaften über dem Tibetplateau. Ist der Boden so stark geschädigt, gebe es einen „point of no return“.

Die Vegetationsperioden seien mit drei bis vier Monaten extrem kurz. In der Höhenlage würde eine Regeneration des so geschädigten Bodens Jahrhunderte dauern. Der einzige Weg, diese sich selbst verstärkenden Effekte zu umgehen, sei, die Viehhaltung auf den betreffenden Weiden nahhaltig zu reduzieren, also weniger Vieh pro Hektar zu halten und die Flächen häufiger zu wechseln. CAU

Weiden, die moderat durch die Herden umherziehender Nomaden genutzt werden, können sich ausreichend regenerieren. Foto: Lena Becker
Sandra Spielvogel. Foto: privat
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