Seit Donnerstag vergangener Woche erklingt im Unterricht an 15 Grundschulen im Land einmal der Gong und eine tägliche Leseeinheit von 20 min beginnt – egal ob in Mathe, im Sachunterricht oder in Deutsch, also unabhängig vom Fach oder den Jahrgangsstufen. Diese täglichen, verbindlichen Leseeinheiten sind Bestandteil des Programms „Leseband.SH“, eines Programms zur Leseförderung. Bildungsministerin Karin Prien (CDU) stellte das Projekt in einer zweiten Klasse der Grundschule am Göteborgring in Kiel vor.
„Wann ist sie denn endlich da? Ich glaube, jetzt kommt sie!“ Aufgeregt sitzen die 22 Zweitklässler der Grundschule am Göteborgring in Kiel auf ihren Stühlen und warten auf die Ankunft von Bildungsministerin Karin Prien. Die Stühle sind im Viereck angeordnet, in der Mitte steht ein Tisch mit einem Globus darauf. Ein Stuhl ist leer, der ist für die Ministerin reserviert.
Dass es kein normaler Unterricht ist an diesem Vormittag, beweisen auch die vielen fremden Erwachsenen in dem Klassenraum, die mit Fotoapparaten, Handys und Filmkameras ebenfalls auf die Ankunft der Ministerin warten, denn sie wollen über sie und den Start des Leseband-Projektes in Zeitungen und im Fernsehen berichten – ganz schön aufregend.
Endlich, sie betritt den Raum und setzt sich gleich zu den Kindern, um ihnen etwas aus einem Buch vorzulesen. Zuvor hatte die Schule Buchvorschläge bei ihr eingereicht, von denen sich die Ministerin einen aussuchen konnte. Ihre Wahl fiel auf „Wir sind nachher wieder da, wir müssen kurz nach Afrika“ von Oliver Scherz. Darin geht es um einen Elefanten, der seine Großfamilie in Afrika besuchen will, aber nicht weiß, wo dieses Afrika liegt. Er bricht aus dem Zoo aus, folgt seinem Rüssel und landet bei Marie und Joscha. Die wissen auch nicht genau, wo Afrika liegt, im Süden eben. Laut Globus ist es nicht weit weg, also packen sie ihn kurzerhand zusammmen mit zwei Äpfeln und Keksen in einen Rucksack, um den Elefanten auf seiner Reise nach Afrika zu begleiten. Für die Eltern hinterlassen sie eine Nachricht auf einem Zettel: „Wir sind nachher wieder da, wir müssen kurz nach Afrika.“
Die Ministerin liest ein paar Seiten vor und zieht die Schülerinnen und Schüler für wenige Minuten in den Bann der Geschichte. Dann kommt der Globus ins Spiel, denn nun sollen die Kinder ihr zeigen, wo denn Afrika liegt. Doch nur mit Vorlesen ist es beim Leseband nicht getan, schließlich geht es um die Leseförderung der Schülerinnen und Schüler. Die Lehrkräfte, die alle in das Projekt mit eingebunden sind, wählen je nach Sprach- und Lesestand der einzelnen Lerngruppen aus unterschiedlich anspruchsvollen Methoden aus.
Neben Vorlesen und Zuhören sind dies auch Vorlesen und Mitlesen (chorisches Lesen), Tandemlesen, Lesen mit dem Ich-Du-Wir-Würfel, Vorlesetheater oder Lesen mit Hörbüchern. Dabei wird nicht nur der Lesefluss gefördert, sondern auch das Verstehen und Verinnerlichen des Inhalts. Sinnentnehmend lesen nennt sich das, „denn beim Lesen geht es darum, den Zugang zu anderen Welten zu bekommen, im Geiste an andere Orte zu reisen und sich dadurch ganz neue Dimensionen der eigenen Wahrnehmung zu erschließen“, erklärt Prien im Anschluss an die Leseeinheit.
Lesen sei die Voraussetzung für alles – um in der Gesellschaft mitmachen und teilhaben zu können, um erfolgreich zu sein und um ein erfülltes Leben führen zu können. Letztlich gehe es auch um Demokratie, denn nur wer lesen könne, könne sich mit gesellschaftlichen und politischen Themen auseinandersetzen und sie bewerten. „Lesekompetenz ist die entscheidende Kompetenz für Kinder und mitentscheidend für den Bildungserfolg. Deshalb ist es für uns in Schleswig-Holstein absolut prioritär, dass Kinder lesen lernen“, so die Ministerin.
Dabei sei es wichtig, nicht irgendetwas zu tun, sondern mit wissenschaftlich erprobten Methoden zu arbeiten. Und eine dieser bewährten Methoden sei das Leseband.SH, das zunächst an den 15 Grundschulen gestartet sei und im Sommer auf 30 Schulen im Land ausgeweitet werde, in erster Linie an den Perspektivschulen, da dort der Bedarf am größten sei.
Das bestätigt die Leiterin der Grundschule am Göteborgring, Dorothee Hamann: „Basiskompetenzen sind unser großes Thema hier an der Schule. Wir haben hier Kinder aus 24 Ländern mit entsprechend vielen verschiedenen Sprachen und mit Eltern, die nicht lesen und schreiben können beziehungsweise die deutsche Sprache nicht beherrschen. Und wir haben viele Kinder, die keine Bücher kennen. Wir haben immer schon nach Möglichkeiten geschaut, das Lesen zu fördern, und sind auf das Leseband gestoßen. Wir haben es uns angeschaut, fanden es super und probieren es jetzt aus.“
Entwickelt hat das Programm Prof. Steffen Gailberger, der an der Bergischen Universität Wuppertal den Lehrstuhl für Lese- und Literaturdidaktik leitet. Er übernimmt auch die für vier Jahre angesetzte wissenschaftliche Begleitung der Pilotschulen im Land. Dass sein Konzept funktioniert, weiß er von positiven Ergebnissen aus Hamburg, wo er das Konzept im Auftrag der Hansestadt einst entwickelt hat: „Es fühlt sich gut an zu sehen, wie Schülerinnen und Schüler profitieren. Wir konnten anhand der Ergebnisse in Hamburg sehen, dass sich die Leistungen nicht nur im Lesen, sondern auch in der Rechtschreibung verbesserten. Zudem konnten die Kinder auch in anderen Fächern wie Mathe besser mitmachen, weil sie dort die Texte besser verstanden. Ich bin selbst Lehrer und Vater und nicht nur Wissenschaftler. Auch vor diesem Hintergrund ist das ein tolles Ergebnis“, so Gailberger.