„Zum 75. Geburtstag des Grundgesetzes lohnt es sich, weiter für unsere Demokratie zu kämpfen. Nix ist fix. Für Gleichheit und Freiheit müssen wir alle einstehen, jeden Tag“, sagt Johanna Selbert. Seit rund zwei Jahren lebt die gebürtige Hessin in Schleswig-Holstein. Mit Respekt schaut sie auf ihre Urgroßmutter, die Kasseler Juristin Dr. Elisabeth Selbert (1896-1986) zurück, die maßgeblich dafür sorgte, dass der Artikel 3, Absatz 2 ins Grundgesetz kam: Männer und Frauen sind gleichberechtigt.
Johanna Selbert kommt gerade von einem beruflichen Termin in der Industrie- und Handelskammer (IHK) zu Kiel. In der Flensburger IHK-Dependance arbeitet die junge Volljuristin als Referentin im Team Recht und Steuern, ihre erste Anstellung nach Studienabschluss. Nun ist sie mit dem Bauernblatt am Kieler Landtag verabredet. Ein passender Ort, um über einen Aspekt rund um die Entstehung des Grundgesetzes zu sprechen, der heute kaum noch im gesellschaftlichen Gedächtnis ist. Deshalb nimmt die 33-Jährige das aktuelle Erinnern an die Geburtsstunde der Bundesrepublik vor 75 Jahren gern zum Anlass, um bei diversen Veranstaltungen auf das Wirken ihrer Urgroßmutter aufmerksam zu machen.
Auch wenn sie selbst sie nicht mehr persönlich gekannt hat – sie wurde fünf Jahre nach ihrem Tod geboren –, setzte die Urahnin wegweisende Impulse nicht nur für die Bundesrepublik, sondern auch für die nachfolgenden Frauengenerationen der Selberts. „Meine Mutter Susanne war 26, als ihre Großmutter Elisabeth mit knapp 90 starb. Die beiden hatten einen engen Kontakt, sowohl in ihrer Kindheit als auch in der Zeit, als meine Mutter Jura studierte. Sie konnte mir noch viel aus eigenem Erleben berichten. Elisabeth Selbert ist immer in unserer Familie präsent. Wir reden über sie.“
Ein Blick zurück: Auf Weisung der drei Westmächte, gewählt von den Landtagen, kommen am 1. September 1948 in Bonn erstmals die 65 stimmberechtigten Abgeordneten des Parlamentarischen Rates zusammen, um ein Grundgesetz für die Westzonen auszuarbeiten. Aus Schleswig-Holstein sind Andreas Gayk und Rudolf Katz von der SPD sowie Hermann von Mangoldt und Carl Schröter von der CDU dabei. Unter den Abgeordneten gibt es nur vier Frauen. Neben Elisabeth Selbert (SPD) sind es Frieda Nadig (SPD), Helene Weber (CDU) und Helene Wessel (Zentrum).
Im Hauptausschuss des Rates wird über Grundsatzfragen beraten, zu denen nach fester Überzeugung Selberts die Verankerung der Gleichberechtigung von Mann und Frau gehört. Aber die von ihr über die SPD eingebrachte schlichte und eindeutige Formulierung „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“, findet überraschend keine Mehrheit. Die Ausschussmitglieder verständigen sich zunächst auf den Satz „Männer und Frauen haben die gleichen staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten.“ Im Klartext bedeutet das, die Frauen sollen, wie schon in der Weimarer Republik, lediglich das aktive und passive Wahlrecht erhalten. Mit diesem Widerstand gegen die Festschreibung der Gleichberechtigung hat Elisabeth Selbert nicht gerechnet. Immerhin gibt es zum Ende des Zweiten Weltkrieges sieben Millionen mehr Frauen als Männer. Das Gewicht dieser Wählerinnen kann man(n) doch nicht außer Acht lassen! Die streitbare Sozialdemokratin versucht, einen Konsens mit den anderen drei Frauen im Rat herzustellen, was aber aus verschiedenen Gründen schwierig ist. Ihre Genossin Frieda Nadig befürchtet beispielsweise ein Rechtschaos, wenn im Grundgesetz die Gleichstellung der Frau verankert würde, ohne gleichzeitig entsprechende Passagen im geltenden Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) von 1900 zu ändern, das den Frauen kaum Rechte zugesteht.
Elisabeth Selbert fängt an, über Parteigrenzen hinweg nach Verbündeten für ihre Formulierung zu suchen, und initiiert Protest in der breiten Öffentlichkeit. Damit setzt sie sich über ungeschriebene Gesetze parlamentarischer Konsensbildung hinweg. In einer Rede Ende der 1970er Jahre vor dem Deutschen Frauenring in Kassel schaut sie auf die Ereignisse zurück: „Es war geradezu begeisternd und erschütternd, wie die Proteste aus dem ganzen Bundesgebiet, und zwar Einzelproteste und Verbandsproteste, in großen Bergen in die Beratungen des Parlamentarischen Rates hineingeschüttet wurden. Körbeweise! Und ich wusste, in diesem Augenblick hätte kein Abgeordneter mehr gewagt, gegen diese Fülle von Protesten anzugehen und bei seinem Nein zu bleiben.“ Tatsächlich: Wessel, Weber und Nadig schwenken auf Selberts Linie ein. Nach zähen Verhandlungen nehmen schließlich im Hauptausschuss alle Mitglieder in der vierten Lesung einstimmig die Formulierung an: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt.“ Ein Übergangsparagraf bestimmt, dass das BGB bis 1953 entsprechend angepasst werden muss. Am 23. Mai 1949 wird das Grundgesetz vom Präsidenten des Parlamentarischen Rates und späteren Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) verkündet. Als Zeichen seines provisorischen Charakters – es gilt ja nur für Westdeutschland – spricht man bewusst nicht von einer Verfassung, sondern vom Grundgesetz.
Besonders die Bundes-SPD dankt später Elisabeth Selbert ihren Einsatz nicht. Eine bundespolitische Karriere bleibt ihr versagt. Zu profiliert, ambitioniert, unbequem und querköpfig sei sie gewesen, hieß es damals. „Sie war darüber zeitlebens tief enttäuscht. Sicherlich wäre sie gern Richterin am Bundesverfassungsgericht, Bundestagsabgeordnete oder hessische Justizministerin geworden“, gibt Urenkelin Johanna zu bedenken. Nach insgesamt zwölf Jahren als hessische Landtagsabgeordnete tritt Elisabeth Selbert 1958 von allen Ämtern zurück. Bis zu ihrem 85. Lebensjahr wird die Mutter zweier Söhne in ihrer Anwaltskanzlei als Rechtsanwältin für Familienrecht und Notarin tätig sein. Sie stirbt am 9. Juni 1986 in Kassel.
Am 3. Oktober 1990 schließen sich die fünf neu gegründeten ostdeutschen Länder und Ostberlin der Bundesrepublik und dem Grundgesetz an. Im Jahr 1994 wird im Zuge der Wiedervereinigung der Artikel 3, Absatz 2 des Grundgesetzes konkretisiert. Seitdem heißt er: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.“
Ob Johanna Selbert sich in der Tradition ihrer Urgroßmutter sehe? Sie denkt kurz nach. „Schon früh habe ich mich für die Gemeinschaft eingesetzt. Dabei waren mir Elisabeth Selbert und meine kommunalpolitisch sehr aktive Mutter ein Vorbild“, antwortet sie. Damals in der Schule sei sie Klassen- und Schulsprecherin gewesen, mit 14 Jahren im Sportverein Kinder- und Jugendtrainerin in der Abteilung Sportakrobatik.
Nach dem Abitur sei sie für ein Jahr nach Chile gegangen, um in einem Kinderheim zu arbeiten. Auch in Australien sei sie im Rahmen von Work and Travel unterwegs gewesen. „Beruflich ging ich danach nicht den direkten Weg ins Jurastudium, sondern machte erst meinen Bachelor in Soziologie. In der dortigen Fachschaft war ich im Fakultätsrat aktiv, während meines Jurastudiums in der Hochschulgruppe der kritischen Jurist*innen Heidelberg engagiert und während meines Referendariats stellvertretende Landessprecherin des Gerichtsbezirks. Erst 2017 trat ich in die SPD ein. Seit zwei Jahren bin ich nun an meinem jetzigen Wohnort Flensburg ehrenamtlich im Einsatz“, berichtet Selbert.
Sie gehöre dem örtlichen Vorstand der SPD-Frauen an und sei Beisitzerin im SPD-Kreisvorstand. Ebenso sei sie Mitglied im Deutschen Juristinnenbund. „Ich hatte schon immer Freude daran, Verantwortung zu übernehmen und gemeinsam mit anderen Menschen Neues zu gestalten“, fasst sie ihr weitreichendes Handeln zusammen. Ob es etwas gebe, das sie an ihrer Urgroßmutter besonders schätze und bewundere? Da muss sie nicht lange überlegen. „Ihren Mut, ihre Hartnäckigkeit, ihre Entschlossenheit, ihre Sachlichkeit als Juristin ohne jegliche Polemik und ihre Toleranz.“ Mit ihrem eigenen Beispiel möchte Johanna Selbert auch anderen jungen Frauen Spaß an der Politik und am Mitgestalten der Demokratie und Zivilgesellschaft machen. „Sich weiterhin auch für die Sache der Frauen einzusetzen, bleibt nötig. Viel ist erreicht, viel bleibt aber noch zu tun“, resümiert sie abschließend.
Silke Bromm-Krieger
Literatur
Hans Eichel, Barbara Stolterfoht (Hg.): „Elisabeth Selbert und die Gleichstellung der Frauen – Eine unvollendete Geschichte“, euregioverlag, 20 €,
ISBN: 9 78-3-93 36 17-62-0; ein Sammelband mit elf Beiträgen verschiedener Autorinnen und Autoren rund um Elisabeth Selbert und die Gleichstellung – von gestern bis heute. Enkelin Susanne Selbert gewährt einen familiären Blick auf die Person Selberts.