Amira* lebt mit ihrer Tochter Lina* (* Namen geändert) im Frauenhaus Preetz. Dies ist im Kreis Plön ein sicherer Zufluchtsort für Frauen, die bedroht werden oder vor Gewalt fliehen müssen. Amira will, dass gewaltbetroffene Frauen erfahren, dass sie nicht allein sind, sondern dass es Hilfe gibt. Deshalb hat sie sich entschlossen, über ihre Gewalterfahrungen zu reden.
(Hinweis: Im Beitrag wird über Gewalt an Frauen gesprochen. Wenn das Thema für Sie emotional belastend sein könnte, lesen Sie den Artikel bitte nicht oder nur mit einer Vertrauensperson.)
In der Beratungsstelle des Frauenhauses sitzt Amira an einem Besprechungstisch. Neben ihr zwei Frauenhausmitarbeiterinnen, die sie begleiten: Andrea Heitmann und Lena Bandaogo. Amira hat lange überlegt, ob sie über das, was ihr widerfahren ist, sprechen soll. Vor sieben Monaten ist die 26-Jährige im Rahmen eines Familiennachzugs mit ihrer vierjährigen Tochter Lina aus dem Ausland nach Schleswig-Holstein gekommen. Ihr Mann hatte hier Arbeit gefunden und wollte seine kleine Familie bei sich haben.
Doch der Start in Deutschland verläuft für Amira anders als erwartet. Ihr Mann verbietet ihr, Kontakt zur Außenwelt aufzunehmen. „Ich kannte hier niemanden, hatte keine Freunde, keine Familie, nur meine Tochter und meinen Mann“, erzählt die Hausfrau in fließendem Deutsch, das sie bereits in ihrer Heimat lernte. Während ihr Mann zur Arbeit geht, darf Amira die Wohnung nicht verlassen. Sie darf nicht allein einkaufen gehen, bekommt kein Geld und kein Handy. Auch mit der Tochter darf sie nicht auf den Spielplatz. Will sie mit der Mutter oder Verwandten in der Heimat telefonieren, steht ihr Mann während des Gesprächs daneben. Er kontrolliert seine Frau und will die Macht über sie haben. Als er eines Tages von der Arbeit nach Hause kommt, möchte seine Tochter mit ihm spielen. Er lehnt entnervt ab. Als Amira versucht, ihn zum Spielen zu ermuntern, wird er gewalttätig. Er schlägt seiner Frau ins Gesicht. Als eine Nachbarin sie am nächsten Morgen mit einem blauen Auge sieht, spricht sie Amira offen darauf an. „Zuerst sagte ich ihr, ich sei gefallen, aber sie meinte, dass glaube sie nicht.“ Amira fasst Vertrauen zur Nachbarin und erzählt ihr die wahre Geschichte. „Die Nachbarin machte mich darauf aufmerksam, dass es in Deutschland Frauenhäuser und Beratungsstellen für Frauen gibt, die von Gewalt betroffen sind, und dass ich jederzeit das Recht habe, dort Hilfe in Anspruch zu nehmen. Das wusste ich vorher nicht. Sie schlug vor, dass ich in der Beratungsstelle an meinem Wohnort anrufe, aber ich hatte ja kein Telefon“, blickt Amira zurück. Doch sie hält weiterhin Kontakt zur Nachbarin. Irgendwann kann sie von deren PC eine E-Mail an die Beratungsstelle schicken, die sie daraufhin zu einem Gespräch einlädt. „Doch ich hatte zu viel Angst, dass mein Mann davon erfahren könnte, und nahm den Termin nicht wahr.“
Nach dem ersten Schlag ihres Mannes folgen unvermittelt weitere. An einem Tag schlägt er sie so stark auf den Kopf und ins Gesicht, dass sie eine Gesichtsschwellung und ein blaues Auge davonträgt. Die einsetzenden Kopfschmerzen sind nach einigen Tagen so heftig, dass sie ihren Mann bittet, sie zum Arzt zu bringen. „Er willigte ein, meinte aber, ich solle dem Arzt sagen, ich sei beim Spielen von der Schaukel gefallen.“ Der Mediziner erkennt sofort, dass das nicht stimmt. „Auch er erklärte mir, dass ich bei der Polizei Anzeige erstatten und zum Schutz in ein Frauenhaus gehen könne. Aber ich sagte aus Angst, das wolle ich nicht.“ Als es wenig später erneut zu einem Gewaltausbruch des Ehemanns kommt und er sie danach einschließt, ruft sie um Hilfe. Nachbarn verständigen die Polizei. Amira erstattet jetzt Anzeige und wird mit Lina ins Frauenhaus ihres Wohnorts gebracht. „Da ich hörte, dass mein Mann nach mir sucht, zog ich sicherheitshalber nach drei Tagen ins Preetzer Frauenhaus um.“
Seit August sind Amira und Lina nun hier. Die Adresse des Frauenhauses ist geheim. Mit ihrem Mann hat Amira mittlerweile telefonischen Kontakt. „Er will, dass ich die Anzeige zurücknehme und wieder nach Hause komme. Er ist freundlich zu mir und hat versprochen, sich zu bessern. Doch wie es weitergeht, darüber habe ich noch keine Entscheidung getroffen“, berichtet sie. Jetzt sei sie erst einmal froh, Luft holen zu können und mit ihrer Kleinen in Sicherheit zu sein. Ebenso freut sie sich über die zurückgewonnene Freiheit. Mit acht weiteren Frauen und acht Kindern aus den verschiedensten Ländern und Kulturen lebt sie momentan zusammen. „Wir sind Freundinnen geworden, unterstützen uns gegenseitig und bauen uns auf.“ Jede Bewohnerin hat ein eigenes Zimmer. Wohnzimmer, Küche, Kinderspielzimmer, Sanitärbereich und einen Garten teilen sie sich in der Wohngemeinschaft. Jede Woche gibt es eine Hausversammlung, auf der Organisatorisches besprochen wird. Ansonsten versorgt jede Frau sich und ihre Kinder selbst und eigenverantwortlich.
Vier Frauenhausmitarbeiterinnen in Teilzeit unterstützen sie im Alltag. Finanziert wird der für die Bewohnerinnen kostenfreie Aufenthalt durch das Finanzausgleichsgesetz über die Kommune und das Land. „Jede Frau kann so lange bleiben, wie sie den Platz braucht“, unterstreicht Andrea Heitmann, die seit 38 Jahren im Frauenhaus tätig ist. Teilweise kommen die Frauen mittellos in die Einrichtung. Die Mitarbeiterinnen helfen dann beim Umgang mit Behörden und unterstützen bei Antragstellungen. Zur Überbrückung erhalten die Frauen bei Bedarf eine finanzielle Hilfe aus Spenden, die der Förderverein des Frauenhauses unermüdlich einwirbt.
Zu Amiras Geschichte möchte Andrea Heitmann Folgendes ergänzen: „Häusliche Gewalt an Frauen in der Partnerschaft findet in allen sozialen Schichten und Kulturen statt. Ob arm oder reich, Deutsche oder nicht. So wie Amira ergeht es vielen Frauen. Dort, wo sie sich am sichersten fühlen sollten, in ihrem eigenen Zuhause, herrscht für sie oft das größte Sicherheitsrisiko“, gibt sie zu bedenken. Deshalb setzen sie und Lena Bandaogo sich auch gesellschaftspolitisch engagiert für ihre Klientinnen ein. „Deutschland muss mehr tun! Wir brauchen mindestens doppelt so viel Frauenhausplätze und eine bessere personelle Ausstattung. In Preetz mussten wir in diesem Jahr schon 89 Frauen mit 103 Kindern abweisen, weil wir voll belegt sind.“
Amira ist froh, der häuslichen Gewaltspirale entkommen zu sein. „Ich will auch anderen betroffenen Frauen Mut machen, nicht aus Scham zu schweigen, sondern sich Hilfe zu holen und den eigenen Weg zu gehen, für eine Zukunft ohne Angst, für uns und unsere Kinder.“
Info
Bundesweites Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“, anonym, vertraulich und kostenlos, auch für Angehörige, Freundinnen, Freunde sowie Fachkräfte, Tel.: 0 80 00-11 60 16, weitere Infos und eine Onlineberatung unter hilfetelefon.de
digitaler Kontakt zu Frauenberatungsstellen und Frauennotrufen in Schleswig-Holstein – kostenfrei, anonym und sicherer als per E-Mail: lfsh.de/textus
eine bundesweite Übersicht über freie Plätze in Frauenhäusern unter frauenhaus-suche.de
Infos und Kontaktadressen von örtlichen Hilfeeinrichtungen unter lfsh.de und frauen-gegen-gewalt.de