Ganz genau genommen wurde der Landesverband Schleswig-Holsteinischer Schaf- und Ziegenzüchter vor 102 Jahren ins Leben gerufen. Aber wie viele Veranstaltungen musste die Jubiläumsfeier wegen der Pandemie verschoben werden. Diesen Herbst wurde sie nachgeholt, ein willkommener Anlass, mit der Geschäftsführerin des Verbandes, Janine Bruser, zu sprechen, wie sich die Schafzucht in einem Jahrhundert entwickelt hat. Isa-Maria Kuhn, Landwirtschaftskammer SH, hat sie in der Geschäftsstelle in Kiel getroffen.
Janine Bruser, die kleinen Wiederkäuer sind aus der Landschaft nicht wegzudenken. Wie hat sich ihr Bestand über die Jahrzehnte entwickelt?
Janine Bruser: Wie im übrigen Deutschland erlebte die Schafzucht auch in Schleswig-Holstein ihre Hauptblüte um die Mitte des 19. Jahrhunderts, 1873 beispielsweise wurden 392.431 Schafe in Schleswig-Holstein statistisch erfasst. Anfang des 20. Jahrhunderts ging die Schafhaltung dann immer weiter zurück. Bezogen auf ganz Deutschland waren die sinkenden Wollpreise infolge der Konkurrenz der Australwolle die Hauptursache. Bei uns war es namentlich die aufblühende Milchwirtschaft, die das ganze Interesse der Landwirtschaft im Bann hielt und sie die Schafhaltung vernachlässigen ließ. Zur Zeit der Gründung wurden 188.761 Schafe in Schleswig-Holstein gehalten, die meisten davon in bäuerlichen Betrieben, was im krassen Gegensatz zum Rest Deutschlands stand, wo Großbetriebe vorherrschten. Etwa 63 % der Schafe in Schleswig-Holstein wurden in Betrieben mit 10 bis 100 ha gehalten. Damals wie heute gab es die meisten Schafe an der Westküste. Die Schafe liefen ohne ständige besondere Aufsicht mit dem anderen Vieh des Hofes zusammen auf den Weiden, die durch breite Wassergräben voneinander getrennt waren. Das Fehlen dieser Gräben war wohl mit ein Grund dafür, dass auf der Geest weniger Schafe gehalten wurden. Als weitere Schafhaltungsformen gab es zudem die Gutsschäferei, die Bezirksschäferei, wozu auch die Deichschäfer zählten, und die sogenannte Einzelschafhaltung des Kleinsiedlers.
Wie sehen die Betriebe heute aus?
Heute gibt es sowohl große Schäfereien, die mit der Schafhaltung ihr Geld verdienen, als auch Schafbetriebe im Nebenerwerb, Zuchtbetriebe und Hobbyschafhaltungen. Als Land zwischen den Meeren spielt in Schleswig-Holstein natürlich der Küstenschutz eine bedeutende Rolle. Viele unserer Haupterwerbsschäfereien sind Deichschäfer. Rund 6.000 ha Vorland- und Deichflächen an der Ost- und Westküste Schleswig-Holsteins sowie ein Großteil der Binnendeiche an der Elbe werden mit Schafen beweidet. Waren die meisten Schafhalter 1920 wahrscheinlich bäuerlich geprägt, halten heute Schülerinnen, Pastoren, Rechtsanwältinnen und viele mehr Schafe und Ziegen. Wir freuen uns selbstverständlich, dass sich viele Menschen weiterhin mit Schafen beschäftigen. Gleichzeitig liegt hier auch eine große Herausforderung für den Verband, denn viele der neuen Züchter halten zum ersten Mal Tiere, sodass sich neue Fragestellungen ergeben.
Wie auskömmlich ist die Schafhaltung heute denn noch?
Unterschiedliche, regionsspezifische Betriebsvoraussetzungen und -strukturen, mit mehr oder weniger Funktionen in der Landschaftspflege, wechselnde Lämmerpreise zwischen den Jahren und Regionen sowie weitere Einflüsse bestimmen die wirtschaftliche Situation der Betriebe. Das Betriebseinkommen aus der Schafhaltung rangiert im unteren Drittel der Skala landwirtschaftlicher Betriebe. Das heißt, die Schäfer leisten vergleichsweise viel bei wenig entlohnter Arbeitszeit, erzielen aber nur ein begrenztes Betriebseinkommen. In vielen Bundesländern kommt der überwiegende Teil der wirtschaftlichen Erträge in der Schafhaltung aus Direktzahlungen und Prämien. Schleswig-Holstein bildet hier eine Ausnahme, da die meisten Schäfereien ihr Einkommen überwiegend aus der Lammfleischerzeugung generieren. Trotzdem geht es ohne öffentliche Zuwendungen auch hier nicht. Die Lammfleischpreise haben sich in den vergangenen zwei Jahren erholt und sind zurzeit auf einem stabilen und guten Niveau. Gleichzeitig sind aber die Betriebskosten stark angestiegen, was die Gewinnspanne für die Betriebe senkt.
Die geplante Einführung einer gekoppelten Weidetierprämie für Schaf- und Ziegenhalter könnte die wirtschaftliche Lage des Betriebszweiges Schafhaltung entlasten. Für die Schafhalter ist eine starke Einkommensgrundstützung aus der Ersten Säule, verbunden mit einer gekoppelten Prämie für die Haltung von Schafen und Ziegen und gegebenenfalls nutzbaren Ökoregelungen, dringend notwendig.
Neben der Erzeugung eines hochwertigen Lebensmittels erfüllt die Schafhaltung die Aufgaben des Küstenschutzes, der Landschafts- und Grünlandpflege und der Erhaltung genetischer Vielfalt, und das bei artgerechter Weidehaltung. Diese Dienstleistungen werden nicht in ausreichendem Maße honoriert.
Bei den Rassen hat sich einiges getan. Was grast heute auf unseren Deichen und dem Grünland?
Nach der Rassenzählung von 1935 entfielen 82 % des schleswig-holsteinischen Herdbuchbestandes auf die Weißköpfigen Fleischschafe. Daneben wurden noch Schwarzköpfige Fleischschafe sowie Fleischmilch- und Milchschafe genannt. Das deutsche Weißköpfige Fleischschaf wird der großen Gruppe der schlichtwolligen Schafe zugezählt. Es hat sich aus den alten, bodenständigen Marschschafschlägen in den unterschiedlichen Regionen entwickelt. Unterschiede in den Umweltverhältnissen, in der Zuchtwahl und in den zur Kreuzung benutzten Rassen haben die Ausgestaltung der heutigen Formen der Marschschafe bedingt. Erst 1963 erschienen die Texel-Schafe als „Weißköpfe im Texeltyp“ zum ersten Mal in der Verbandsstatistik. 1965 folgte in Husum die erste Auktion ausschließlich für Texel-Böcke. 1973 nahmen sie hinsichtlich des LV-Herdbuchanteils erstmalig Rang eins ein, den sie bis heute gehalten haben. Nach und nach wurden weitere Rassen ins schleswig-holsteinische Herdbuch aufgenommen, sodass wir zurzeit 33 Schafrassen und neun Ziegenrassen betreuen. Das Rassespektrum reicht von den Fleisch- zu den Landschafen, Milchschafen und Haarschafen, es gibt groß- wie auch kleinrahmige, leistungsstarke, gefährdete und vom Aussterben bedrohte, traditionelle wie auch „exotische“ Rassen.
Schleswig-Holstein ist durch seine guten Grünlandflächen und auch durch die Deichbeweidung besonders für die Fleischproduktion prädestiniert. Daher konnten sich die Haupterwerbsschäfereien vor allem auf Rassen mit guter Fleischleistung und -qualität spezialisieren, sodass im Gegensatz zu vielen anderen Bundesländern die Schäfereien von der Lämmervermarktung existieren können. Auf der anderen Seite haben manche Rassen dadurch aber auch an Bedeutung verloren. Dank des Engagements von Züchterinnen und Züchtern, die sich im Nebenerwerb und im Hobby der Herdbuchzucht angenommen haben, ist es gelungen, die Rassevielfalt in Schleswig-Holstein zu erhalten und die Zuchtleistungen zu verbessern.
15 unserer Schafrassen und drei Ziegenrassen werden als Beobachtungs- beziehungsweise Erhaltungspopulation auf der Roten Liste gefährdeter Nutztierrassen 2021 aufgeführt.
Um ein Thema kommen wir nicht herum, das zu den Gründungszeiten nicht aktuell war, den Wolf. Wie sehr macht er Ihnen als Nutztierhaltern zu schaffen?
Bisher haben wir keine Rudel in Schleswig-Holstein. Aber auch schon die Einzelwölfe stellen uns vor große Probleme. Gerissene tote Schafe sind für alle Schafhalter schon ein grässlicher Anblick, aber stark verletzte Tiere, die mit aufgerissenen Bäuchen immer noch weiterlaufen, bringen auch hartgesottene Schäfer zur Verzweiflung.
Das große Problem ist der geforderte Herdenschutz. Bisher kommen in Deutschland als Herdenschutz hauptsächlich spezielle Zäune oder Elektronetze zum Einsatz. Diese Strategie ist für die Schäfer in Schleswig-Holstein kaum tragbar. Das Errichten der Zäune mit Vierfachlitzen oder Netzen ist wesentlich komplexer und damit mit einem Vielfachen an Arbeit verbunden. Im Gegensatz zu vielen anderen Bundesländern, in denen die Schafe in einer großen Herde von einem Schäfer gehütet werden (Hütehaltung), herrscht in Schleswig-Holstein die sogenannte Koppelschafhaltung vor. In der Regel wird als Zaunsystem nur eine Litze auf Kniehöhe gezogen. Durch diese Art von Koppelschafhaltung ist es möglich, Schafe im Hobby- oder Nebenerwerb zu halten sowie große Herden im Familienbetrieb zu führen.
Insbesondere im Herbst, wenn die Schäfer mit ihren Schafen auf die Winterweiden gehen, ist eine wolfssichere Einzäunung für viele nicht zumutbar. Die Winterweideflächen (Mähflächen der Milchvieh haltenden Landwirte, Zwischenbegrünungen oder abgeerntete Kohlflächen) können bis zu 100 km von der Betriebsstelle entfernt sein. Dabei bringen die meisten Schäfer viele kleine Schafgruppen auf unterschiedliche Standorte. Im Durchschnitt sind die Winterflächen 3 bis 4 ha groß und haben einen durchschnittlichen Umfang von 700 bis 800 m. Die Herdengröße in der Winterweide beträgt zirka 50 bis 100 Schafe, sodass ein Haupterwerbsschäfer mit 1.000 Mutterschafen seine Herde in zehn bis 20 Gruppen aufgeteilt hat.
Da die Flächen je nach Witterung und Bewuchs schnell abgegrast sind, muss jede Gruppe alle drei bis sieben Tage eine neue Weide bekommen. Die Flächen im Winter sind nicht eingezäunt und müssen vom Schäfer mit einem mobilen Zaunsystem begrenzt werden. Die Winterweide dauert etwa vier Monate. In dieser Zeit werden bis zu 200 km Zaun von einem Haupterwerbsschäfer aufgestellt und wieder abgebaut. Das ist für unsere familiengeführten Betriebe schon mit der üblichen Einzäunung eine Herausforderung, mit wolfsabweisenden Zäunen aber für die meisten nicht zu schaffen. Dies wird aber von den zuständigen Stellen nicht akzeptiert und anerkannt und es wird weiter an den bisherigen Maßnahmen festgehalten. Hinzu kommt, dass in mehreren Regionen Wölfe bewiesen haben, dass auch die speziellen Zäune kein Hindernis für sie darstellen.
Die Bockauktionen in Husum sind unter Schafhaltern sehr bekannt. Wie haben die sich im Laufe der Jahrzehnte entwickelt?
Die Auktionen waren seit jeher eine wichtige Einkommensquelle sowohl für den Verband als auch für die Züchter. Zu Anfang fanden diese entweder unter freiem Himmel oder in unzureichenden Räumen statt. 1937 gab es Auktionsplätze in Oldesloe, Eutin, Niebüll, Meldorf, Husum, Siethwende, Bredstedt und in Tönning sogar an zwei Tagen. Dabei wurden 2.075 Böcke angeboten und 1.910 verkauft. Der Durchschnittspreis lag bei 136 RM (Reichsmark), dies entspricht heute rund 585 €.
1937 wurde ein 10 mal 20 m großes Auktionszelt gekauft. Es wurde mit einem Lkw von Auktionsort zu Auktionsort geschafft und „Dr. Augustins Zirkus“ genannt. In den 1960er Jahren wurde die Anzahl der Bockauktionen drastisch von zwölf auf acht und schließlich auf fünf reduziert. 1970 waren auch Meldorf, Tönning und Niebüll nicht mehr dabei. Dazu hatte der zunehmende, ausschließlich auf Husum konzentrierte Texel-Verkauf wesentlich mit beigetragen. Der Bezirk Südwestholstein hat einen Auktionsplatz seit 1920 aufrechterhalten können. Früher in Siethwende, heute in Kollmar ist es zwar eine kleine, aber feine Bockauktion.
Seit 1977 wurde der Großteil des Bockverkaufes in der Nordseehalle in Husum abgewickelt. Durchweg wurden an etwa vier Tagen insgesamt zwischen 1.000 und 2.000 Zuchtschafe, vor allem Böcke, aufgetrieben. Nach 30 Jahren Nordseehalle musste 1997 schweren Herzens eine neue Halle gefunden werden. Zuerst ging man in das Nutzviehzentrum der NFZ in Husum. Als auch diese Halle abgerissen werden sollte, gab es Verhandlungen mit der Messehalle Husum. Seit 2011 finden nun unsere großen Bockauktionen in der schönen Messehalle statt.
Sie vertreten seit den 1980er Jahren auch die Ziegenzüchter im Land. Für welche Betriebe sind diese Vierbeiner interessant?
Ziegen sind intelligent, neugierig und immer für eine Überraschung gut. Galt die Ziege früher als „Kuh des armen Mannes“, wird sie mittlerweile ganz anders wahrgenommen. Sie ist ein wahres Multitalent, denn neben Milch und Milchprodukten liefern sie auch qualitativ hochwertiges Fleisch, Wolle und Felle und wird zudem seit einigen Jahren vermehrt in der Landschaftspflege eingesetzt.
Wenn die Schaf- und Ziegenhalter einen Geburtstagswunsch hätten, wie würde der aussehen?
Eine Lösung der Gänse- und der Wolfsproblematik, weiterhin gute Lammfleischpreise und vor allem viele gesunde Lämmer zur Lammzeit 2023.