Die europäischen Bürger wählen am 9. Juni ein neues Europäisches Parlament. Mit dieser Wahl gehen viele Hoffnungen einher, wie dieses Parlament die Zukunft Europas gestalten könnte. Nicht alle dieser Hoffnungen sind berechtigt, denn vieles, was die Parteien in ihren Wahlprogrammen versprechen, liegt gar nicht in der Macht des Europaparlaments.
So schreibt die AfD etwa in ihrem Wahlprogramm: „Die AfD lehnt ein generelles Tempolimit auf Bundesautobahnen strikt ab.“ Auch die AfD-Forderung nach einer Wiedereinführung der deutschen Wehrpflicht werden die europäischen Abgeordneten mangels Kompetenz in diesem Bereich kaum erfüllen können. Dass die Parteien mit außereuropäischen Themen Wahlkampf machen, ist indes kein Alleinstellungsmerkmal der AfD. Auch die Forderung der Grünen nach Tempo-30-Zonen in bevölkerten Innenstädten dürfte eher eine Aufgabe der Kommunen als der Europäischen Union sein.
Eine Frage der Zuständigkeiten
Doch auch viele Themen, die offensichtlich europäisch sind, werden sich durch die bevorstehenden Wahlen kaum beeinflussen lassen. So liegt etwa die Frage einer möglichen Erweiterung der EU schwerpunktmäßig beim Rat der EU und nicht beim Parlament. Auf die Zusammensetzung des Rates haben die bevorstehenden Wahlen keinen Einfluss. Obwohl viele Wahlkampfforderungen außerhalb der Entscheidungskompetenz des Europaparlaments liegen, ist dieses gleichwohl zu wichtig, als dass seine Zusammensetzung ein Opfer der Unzufriedenheit mit den Bundes- und Landesregierungen werden sollte. Es lohnt sich, genau hinzuschauen, welche umsetzbaren Alternativen die Parteien auf europäischer Ebene tatsächlich anbieten.
Was macht das Europäische Parlament?
Das Europäische Parlament ist Teil der europäischen Gesetzgebung. Das heißt, die 720 Abgeordneten dürfen beim Erlass von Richtlinien und Verordnungen mitentscheiden. Während EU-Verordnungen unmittelbar gegenüber Bürgern, Unternehmern und auch Land- und Forstwirten wirken, müssen EU-Richtlinien erst noch vom Bundestag und gegebenenfalls Bundesrat umgesetzt werden. Diese haben regelmäßig einen weiten Spielraum, wie sie die groben Zielvorgaben der EU im Detail regeln möchten. Der berechtigte Frust über eine ausufernde Bürokratie richtet sich oft zu Unrecht gegen die EU. Denn erstaunlicherweise gelingt es anderen Mitgliedstaaten, EU-Richtlinien mit deutlich weniger Bürokratie in nationales Recht umzusetzen.
Wenn die Bürger im Juni das Europäische Parlament neu wählen, wählen sie nur einen Teil des Unionsgesetzgebers: Ähnlich wie in Deutschland, wo viele Gesetze durch zwei Kammern, nämlich Bundestag und Bundesrat, zu beschließen sind, müssen auch EU-Rechtsakte in der Regel von beiden „Kammern“ beschlossen werden, dem Parlament und dem Rat der EU. Auf die Zusammensetzung des Rates haben die Bürger nur indirekt Einfluss, denn hier sitzen die jeweiligen Fachminister der Mitgliedstaaten. Es gibt also nicht nur einen Rat, sondern viele, zum Beispiel einen Rat für Landwirtschaft und Fischerei, in dem sich die Landwirtschaftsminister aller Mitgliedstaaten treffen. Im Rat für Umwelt wiederum beraten alle Umweltminister.
Über die Zusammensetzung des Rates entscheiden die Deutschen nicht bereits bei der diesjährigen Europawahl, sondern erst bei der nächsten Bundestagswahl, wenn der Bundestag eine Regierung wählt, deren Minister das Land dann im Rat vertreten. Oft nutzen die Minister ihre Ratsmitgliedschaft, um dort unpopuläre Entscheidungen zu treffen, die sie dann gegenüber dem Bürger der EU in die Schuhe schieben können. Insbesondere in Großbritannien führte dieses Schwarzer-Peter-Spiel zu einer antieuropäischen Grundstimmung und schließlich zum Brexit.
Die Rolle der EU-Kommission
Eine wichtige Funktion des Europäischen Parlaments besteht in der Wahl des Kommissionspräsidenten, der wiederum die übrigen Kommissionsmitglieder benennt. Die Kommission ist von den EU-Institutionen am ehesten mit einer Regierung zu vergleichen. Sie bereitet Gesetzesinitiativen vor, verwaltet das Kartell- und Wettbewerbsrecht inklusive Beihilfen und kann Mitgliedstaaten vor dem EuGH verklagen, wenn diese Unionsrecht nicht ausreichend in nationales Recht umsetzen.
Erstmals haben vor den vorigen Europawahlen die Parteien Spitzenkandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten benannt. Obwohl die EVP mit ihrem Kandidaten Manfred Weber (CSU) die meisten Stimmen erhielt, wurde es dann doch Dr. Ursula von der Leyen (CDU): Die Benennung eines Spitzenkandidaten ist unverbindlich und hat allenfalls eine symbolische Bedeutung.
Ist das Parlament demokratisch?
Dem EU-Parlament wird von manchen ein Demokratiedefizit vorgeworfen. So schreibt etwa die AfD in ihrem Wahlprogramm: „Die EU ist undemokratisch, da das Europäische Parlament nicht nach dem urdemokratischen Prinzip des gleichen Stimmgewichts für jeden Wähler gewählt wird.“ Als Konsequenz fordert die AfD: „Das undemokratisch gewählte EU-Parlament wollen wir abschaffen.“
Grundsatz gleicher Bürger und gleicher Staaten
Was ist dran an diesem Vorwurf? Tatsächlich musste die EU einen Kompromiss eingehen zwischen dem demokratischen Grundsatz gleicher Bürger und dem völkerrechtlichen Grundsatz gleicher Staaten. Denn in internationalen Organisationen des Völkerrechts, wie der UNO, haben kleine Staaten wie Luxemburg und Nauru das gleiche Stimmrecht wie Indien oder Brasilien. Von ihren völkerrechtlichen Wurzeln und der undemokratischen Staatengleichheit hat sich die EU ein Stück weit entfernt im Interesse von mehr Bürgergleichheit und Demokratie.
Die perfekt demokratische Variante europaweit zu 100 % gleicher Bürger hätte jedoch das Parlament auf eine gigantische Größe aufgebläht und ihm jegliche Handlungsfähigkeit genommen. Daraufhin entschied man sich für den Kompromiss degressiver Proportionalität. Hiernach entsendet Deutschland mit 96 Abgeordneten zwar deutlich mehr als Malta, Zypern oder Luxemburg mit jeweils sechs Abgeordneten, aber immer noch nicht so viele, wie es seiner großen Bevölkerung entspräche.
Im Endeffekt hat Deutschland trotz der 166-fachen Einwohnerzahl im Parlament nur 16-mal so viel Einfluss wie Malta. Nach dem Wunsch der AfD soll dieses 16-fache Stimmgewicht auf das klassische völkerrechtliche Maß von „one state – one vote“ geschrumpft werden. Die Forderung der AfD würde Deutschlands Gewicht in Europa also nicht stärken, sondern – im Gegenteil – bedeutend schwächen, auf die Größe Maltas.
Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit
Unabhängig davon, dass die Abschaffung eines Parlaments noch nie zu mehr Demokratie beigetragen hat, ist aber auch die isolierte Betrachtung des Parlaments zur Argumentation eines vermeintlichen Demokratiedefizits verfehlt: Am ordentlichen Gesetzgebungsverfahren nimmt nämlich neben dem Parlament auch der Rat teil – also das Gremium der europäischen Fachminister. Hier gilt zur Beschlussfassung das Prinzip einer qualifizierten Mehrheit. Dies bedeutet, dass Entscheidungen nur dann wirksam sind, wenn die Befürworter einer Maßnahme mindestens 65 % der Bevölkerung repräsentieren. Dieses Gewicht bringen große Mitgliedstaaten wie Deutschland, Frankreich und Italien natürlich viel schneller auf die Waage als die kleinen.
Ist die EU reformbedürftig?
Dass das EU-Parlament nicht so undemokratisch ist, wie teilweise behauptet wird, bedeutet nicht, dass bestimmte Reformen nicht sinnvoll sein können. Statt der Abschaffung des Parlaments böte sich zum Beispiel an, dem Parlament ein Gesetzesinitiativrecht einzuräumen, denn derzeit kommen Gesetzgebungsinitiativen ausschließlich aus der Kommission. Diese und andere grundlegende Reformideen bedürfen aber einer Anpassung der Europäischen Verträge. Eine solche Anpassung ist möglich. Immerhin ist der derzeit gültige Vertrag von Lissabon seit 2009 inzwischen länger in Kraft als jeder seiner Vorgänger.
Grundlegende Vertragsänderungen – oder gar ein neuer EU-Vertrag – erfordern aber die Zustimmung aller Mitgliedstaaten und in manchen Mitgliedstaaten sogar eine Volksbefragung. Das Parlament hat hier nur begrenzte Einflussmöglichkeiten. Konkret hat es die Möglichkeit, Änderungsentwürfe vorzuschlagen und im weiteren Verlauf hierzu Stellung zu nehmen. Beschlossen werden diese Änderungen von den Mitgliedstaaten – einstimmig.
Einstimmigkeitsprinzip nicht selten hinderlich
An dem in vielen Fällen geltenden Einstimmigkeitsprinzip entzündet sich Kritik von der anderen Seite. Während die einen das Gefühl haben, die EU regiere zu viel in die Belange ihrer Mitgliedstaaten hinein, stören sich andere daran, dass überfällige Entscheidungen dadurch blockiert werden, dass Einzelstaaten wie etwa Ungarn aufgrund des Einstimmigkeitsprinzips gegen viele Zukunftsprojekte ein Veto einlegen können.
Während im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren eine qualifizierte Mehrheit von Rat und Parlament erforderlich ist, bedürfen wesentliche und ganz grundlegende Entscheidungen nämlich der einstimmigen Zustimmung aller Mitgliedstaaten, wie zum Beispiel über die Sanktionen gegen Russland. Die Einstimmigkeit erwies sich auch bei der Rettung des Euro und der Sanktionierung von rechtstaatlichen Defiziten in Polen und Ungarn als hinderlich. Während eine solche Einstimmigkeit also einerseits ein schnelles Handeln der EU oft behindert, führt sie aber andererseits dazu, dass die Kerninteressen der Mitgliedstaaten und deren Bevölkerung gewahrt werden.
Die Fortsetzung folgt in der kommenden Ausgabe. Der Autor ist Vertreter der Professur für Öffentliches Recht an der Justus-Liebig-Universität Gießen und Fachanwalt für Verwaltungsrecht.




