Autorin Ingelene Rodewald aus Strande ist 101 Jahre alt. Unermüdlich sitzt sie noch täglich an ihrem Laptop und schreibt. Zahlreiche Bücher zur Geschichte ihrer Familie und zu Themen rund um den Ersten und Zweiten Weltkrieg hat die pensionierte Lehrerin bereits veröffentlicht. Hier spricht sie über ihr Leben und das jüngste Werk „Als der Krieg zu Ende war“, welches im vorigen Jahr erschien.
Ingelene Rodewald empfängt gern Gäste. In ihrer Wohnung, umgeben von Erinnerungen und Fotos aus vergangenen Tagen, lebt sie allein. Den Tisch hat sie an diesem Morgen für ein zweites Frühstück liebevoll gedeckt. Selbst eingeweckte Quitten- und Kirschmarmelade, Toast, Butter, Weintrauben, Quittenlikör und ein Herbstblumenstrauß stehen darauf. „Bevor wir arbeiten, essen Sie erst einmal etwas“, meint sie fürsorglich und schenkt Kaffee ein. Jeden Tag bereite sie sich ein gesundes Mittagessen zu, verrät sie. „Und ich danke dem Herrgott allabendlich im Gebet dafür, dass ich noch da bin.“
Als eine der wenigen lebenden Zeitzeugen des Jahrhunderts ist sie als sachkundige Ansprechpartnerin äußerst gefragt und wird nicht müde, ihren reichen Erinnerungs- und Erfahrungsschatz mit den nächsten Generationen wider das Vergessen zu teilen. Als Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) im Rahmen der Aktion „Ortszeit Deutschland“ im Juni dieses Jahres für drei Tage seinen vorübergehenden Amtssitz nach Eckernförde verlegte und Treffen mit Bürgern plante, war es sein ausdrücklicher Wunsch, auch Ingelene Rodewald kennenzulernen. „Der Bundespräsident lud mich ein und nahm sich eine Stunde Zeit für unser Gespräch“, freut sich die agile Seniorin und zeigt ein Foto von dieser besonderen Begegnung.
Als drittes Kind des Kieler Architekten und Baugeschäftsinhabers Magnus Ivens und seiner Frau Emmy wurde sie am 26. März 1922 geboren und wuchs in Kiel-Holtenau auf. Nach dem Abitur ergriff sie den Beruf der Lehrerin und legte im März 1942 ihre erste Lehrerprüfung ab. Nur wenige Wochen später verpflichtete sie das Schulamt per Dienstbefehl zur Übernahme einer einklassigen Dorfschule in Reichelsfelde in Polen im Warthegau, Kreis Posen-Land. Sie sollte 25 Kinder unterschiedlichen Alters aus Umsiedlerfamilien unterrichten. Dort angekommen, fiel dem Schulrat ihr geringes Alter auf, und er meinte: „Sie kann ich nicht gebrauchen.“ „Dann schicken Sie mich doch wieder zurück. Ich wollte hier ja auch nicht her“, erwiderte die damals 20-Jährige schlagfertig. Schließlich blieb sie zwei Jahre in dem Dorf. Die Kinder liebten die neue Lehrerin sofort, waren begeistert von ihrer Warmherzigkeit und Güte. Jeden Schüler förderte sie bestmöglich. Die Kinder lernten, sich untereinander zu helfen und füreinander einzustehen.
Wie es ihr gelang, in den Endwirren des Krieges wieder in die Heimat zurückzukehren, ist eine Geschichte, die auch von einer großen Liebe erzählt. „Mein damaliger Freund und späterer Mann Georg-Wilhelm Rodewald besuchte mich während seines Fronturlaubs. Er ahnte, wie es um den Fortlauf des Krieges stand. Entschlossen ging er zum Schulamt und sagte, dass er die Lehrerin aus Reichelsfelde heiraten und nach Deutschland mitnehmen wollte. Eine Versetzung an den Wohnort des Ehemannes war damals bei einer Heirat möglich.“
Sein Wohnort war Kiel und Ingelene kam dorthin zurück. Drei Tage nach der Ankunft heirateten sie am 20. September 1944 in der Holtenauer Kirche. Erst später sollte sie verstehen, dass er ihr das Leben gerettet hatte, denn fast alle Dorfbewohner fanden beim Einmarsch der russischen Truppen den Tod. Die damaligen Erlebnisse hielt sie in dem 2008 erschienenen Buch „… und auf dem Schulhof stand ein Apfelbaum“ fest. Im Juni 1945 kam ihre erste Tochter Susanne zur Welt. „Bei der Geburt wurde ich sehr krank, bekam hohes Fieber, lag über vier Wochen im Bett und war dem Sterben nah, bis es mir langsam besser ging.“
Die erste Unterkunft nach dem Krieg war für sie der frühere Schafstall im Garten ihres Elternhauses. Magnus Ivens nahm seinen aus der Gefangenschaft heimgekehrten Schwiegersohn kurzerhand als Maurerlehrling in seinen Betrieb auf. Doch Georg-Wilhelm Rodewald wollte mehr. Schon sechs Jahre Zeit hatte er durch den Krieg verloren. Nach einem Lehrjahr begann er deshalb ein Medizinstudium. Während er sich in Kiel und Hamburg seinem beruflichen Fortkommen widmete, sorgte Ingelene Rodewald für den Unterhalt der Familie. „Jetzt kam mir zugute, dass ich im April 1945 darauf bestanden hatte, noch meine zweite Lehrerprüfung zu machen. So konnte ich gleich arbeiten.“ 1950 wurde Tochter Eva geboren, Sohn Hans-Reimer 1958. Ihr Mann baute als Herzchirurg an der Universität Hamburg die Herzchirurgie auf. Ebenso forschte er fachübergreifend und unternahm Reisen zu Kongressen im In- und Ausland. Ingelene Rodewald war dabei stets an seiner Seite. Nach 35 Jahren wurde Prof. Georg-Wilhelm Rodewald 1984 emeritiert. Jetzt wünschte er sich, einmal Land und Leute zu wechseln, und ging mit seiner Frau nach Pembroke in Ontario/Kanada. Hier wirkte er bis zu seinem Tod im Jahr 1991 weiter. 2004 verließ Ingelene Rodewald Kanada und zog nach Strande, wo sie eine Eigentumswohnung besaß.
Dort sitzt sie nun täglich an ihrem Laptop und schreibt. Via Internet und Handy hält die neunfache Großmutter regen Kontakt zu Familienmitgliedern, Freunden und Weggefährten in aller Welt. „Ich habe noch viel vor“, versichert sie. 2022 erschien ihr aktuelles Buch „Als der Krieg zu Ende war“. Darin beschreibt sie lebendig, mit welchen Herausforderungen sie und ihre Familie nach dem Krieg unter der Besatzung der britischen Militärregierung zu kämpfen hatten. So berichtet sie von Ungeziefer und Krankheiten, der eisigen Kälte und der schlimmen Hungersnot. „Bevor mein Mann morgens zur Arbeit ging, stand er oft vor dem fast leeren Küchenregal, auf dem nur ein paar Gewürze waren. Er träufelte sich ein wenig Maggi-Flüssiggewürz auf seinen Finger und steckte ihn in den Mund. Das musste als Frühstück genügen.“ Ohne Strom, mit wenig Brennmaterial der kleinen Tochter das Überleben zu sichern, war ebenfalls eine Herausforderung. Unendlich dankbar war sie über eine nach dem Krieg eingerichtete Säuglingsstation in Kiel-Holtenau, die die damals hohe Säuglingssterblichkeit eindämmen sollte. Hier erhielt die junge Mutter eine Hilfe für ihr Baby und eine Stillbescheinigung, mit der sie sich Trockenmilch in der Apotheke holen konnte. „Für mich waren die Dosen ein Überlebensgeschenk.“
Offen schildert sie auch, welch zwischenmenschliche Probleme sich im Elternhaus ergaben, weil wegen der Wohnungsnot zu viele Menschen zwangseinquartiert waren. Es entstand eine unfreiwillige Hausgemeinschaft, in der jeder für sich und manchmal gegen die anderen ums Überleben kämpfte.
Wenn Ingelene Rodewald auf ihr bewegtes Leben zurückblickt, würde sie im Nachhinein nichts anders machen. „Ich hatte ein wunderbares Leben. Mein Mann und ich waren über 45 Jahre verheiratet. Das Wichtigste für mich war seine Liebe. Von der lebe ich noch heute.“
Ob sie Zukunftspläne habe? Ingelene Rodewald nickt. Weil sie weiß, dass ihre Tage gezählt sind, will sie sich beeilen und bald ein Buchprojekt fertigstellen, das ihr sehr am Herzen liegt. „Ich schreibe gerade über meinen Großvater mütterlicherseits Wilhelm Spethmann (1861-1926), der Druckereibesitzer und Herausgeber der ‚Eckernförder Nachrichten’ war und für die Freisinnige Volkspartei im deutschen Reichstag saß.“
Literatur: Ingelene Rodewald: „Als der Krieg zu Ende war – Kiel 1945 und 1946“, Verlag Ludwig, 16,80 €. ISBN 9 78-3-86 93 54-21-7