Die Sturmflut an der Ostsee vom Oktober ist aus den Schlagzeilen, doch die Folgen beschäftigen Betroffene und Politik noch lange. So ist Umwelt- und Küstenschutzminister Tobias Goldschmidt (Grüne) seitdem unterwegs zu den betroffenen Deichen, um sich vor Ort einen Überblick über die Schäden zu verschaffen und mit den lokalen Akteuren über Lösungsmöglichkeiten zu beraten.
„Wir lassen Sie in dieser Situation nicht allein“, versicherte Minister Goldschmidt bei seinem Besuch in Arnis. Auch bei der an der Schlei gelegenen kleinsten Stadt Deutschlands war in der Nacht vom 20. zum 21. Oktober ein Deich gebrochen. Die Sturmflut hatte das Ostseewasser in die Schlei gedrückt. Die Freiwillige Feuerwehr und viele Bürger versuchten in jener dramatischen Nacht alles, um den Deich zu retten. „450 Leute waren in dieser Nacht im Einsatz. Nachdem der Hochwasserpegel bereits wieder gesunken war, hatten wir nicht mehr damit gerechnet, dass der Deich bricht“, erinnert sich Axel Kühn, stellvertretender Wehrführer der Freiwilligen Feuerwehr Arnis.
Um 1.30 Uhr brach der Deich dennoch. Zu diesem Zeitpunkt waren die Deichretter nicht mehr vor Ort. Großes Glück für sie, so war ihr Leben nicht in Gefahr! Das Schleiwasser überflutete Teile von Arnis. 40 Häuser waren betroffen, zehn besonders schwer. Sie sind seitdem unbewohnbar. Das Wasser stand in Kellern und Erdgeschossen – tagelang. Denn trotz des Einsatzes von leistungsfähigen Pumpen nach der notdürftigen Schließung der Deichbruchstelle brauchten Feuerwehr und Technisches Hilfswerk mehrere Tage, um das Wasser abzupumpen.
Bei den anderen Bewohnern normalisierte sich das Leben nach etwa einer Woche weitgehend, nachdem Strom und Abwasser wieder funktionierten. In den zehn besonders stark betroffenen Häusern ist an Wiedereinzug noch lange nicht zu denken.
Bewuchs und Maulwürfe als Gefahren
Beim Vor-Ort-Termin mit dem Minister spielten auch die kleinen Probleme eine Rolle, die die Stabilität der Deiche gefährden: der Bewuchs und die Maulwürfe. „Der Deich ist auch ein beliebter Wanderweg“, begründete Peter Dreyer, seit 40 Jahren Deichgraf von Arnis, den Bewuchs auf der Landseite des Deiches. „Bewuchs ist immer schädlich für Deiche“, erklärte Birgit Matelski, Direktorin des Landesbetriebs für Küstenschutz (LKN.SH) – siehe Artikel. Auch die Bekämpfung der Maulwürfe war Thema. Sie untergraben im wahrsten Sinne des Wortes die Stabilität des Deiches. Da es im Falle einer Bekämpfung um eine geschützte Tierart geht, ist dafür eine Sondergenehmigung erforderlich.
Erst reparieren, dann langfristige Lösungen
Es wurde schnell klar, dass die kleinteiligen Zuständigkeiten für die Deiche kaum noch kompatibel mit den aktuellen und künftigen Herausforderungen des Küstenschutzes sind. Denn zuständig für die Deiche und deren Wiederaufbau sind die örtlichen Wasser- und Bodenverbände. „Ein Meeresspiegelanstieg von 50 Zentimetern macht aus einer Jahrhundertflut eine Zehnjahresflut“, betonte Goldschmidt. Er erneuerte die Zusage des Landes, 90 % der Kosten für die Wiederherstellung der Deiche zu übernehmen, unabhängig von den Eigentumsverhältnissen. Die einzelnen Deichabschnitte sind häufig in privatem Eigentum, oft von Landwirten. In früheren Jahrzehnten legten die lokalen Akteure Wert darauf, sich selbst um ihre Deichabschnitte zu kümmern. Bei größer werdenden Herausforderungen kommen die örtlichen Wasser- und Bodenverbände zunehmend an ihre Grenzen. Der Landtagsabgeordnete Thomas Jepsen (CDU) erklärte: „Wir brauchen eine höhere Professionalisierung der Wasser- und Bodenverbände mit Fachpersonal.“
Auf Dauer wird es wohl darauf hinauslaufen, dass das Land Deiche übernimmt. „In den 1970er Jahren war das nicht gewollt. Jetzt ist die Bereitschaft größer“, so Minister Goldschmidt, der dafür eine klare Bedingung nannte: „Dann müssen die Deiche dem Land kostenfrei übertragen werden.“
Jetzt geht es erst einmal darum, möglichst schnell die gebrochenen Deiche zu reparieren. In Arnis liegen Tausende Sandsäcke und etliche Sandcontainer an der Bruchstelle, um die Schlei aus der Stadt herauszuhalten. Im ersten Quartal 2024 soll mit den Planungen für die Reparatur des gebrochenen Abschnitts begonnen werden. Doch das ist nur der erste Schritt. Danach braucht es langfristige Überlegungen und Maßnahmen.
Küstenschutzminister Goldschmidt weiß um schmerzliche Entscheidungen, die dann zu treffen sein werden. „Wir werden Deiche hochziehen müssen, aber das wird nicht bei allen möglich sein.“ An manchen Stellen werde man der Ostsee mehr Raum geben müssen. „Und es wird Gebiete geben, an denen keine neuen Häuser mehr gebaut werden dürfen.“ Thomas Jepsen fordert eine langfristige Strategie 2100, „einen Generalplan Küstenschutz“. Um die Orte an der Schlei künftig vor Hochwasser zu schützen, schlug er ein Sperrwerk vor Schleimünde vor. Die damit verbundenen finanziellen Herausforderungen will er durch „eine andere Prioritätensetzung“ stemmen.
Lindenweg besonders hart getroffen
Kerstin Rosinke ist eine der Betroffenen des Arniser Deichbruchs. Erst 2019 ist die junge Frau, die als Leiterin der Bibliothek in Kappeln arbeitet, gemeinsam mit ihrem Partner von Hamburg nach Arnis gezogen. Sie kauften ein 1971 gebautes Einfamilienhaus im Lindenweg. Im Erdgeschoss war alles neu: die Küche, das Bad, das Wohnzimmer. Jetzt laufen dort die Trockner.
Das Wasser kam, während sie mit ihrem Partner im Urlaub war. „Dass bei Hochwasser einmal der Keller volllaufen kann, damit mussten wir rechnen, aber nicht, dass das Wasser im Erdgeschoss stehen würde.“ Schließlich führen mehre Stufen zur Haustür. Bei Nachbarn, deren Haus noch tiefer gelegen ist, stand das Wasser teilweise bis im ersten Stock. Erst einmal wohnen Rosinke und ihr Partner kostenfrei in der Ferienwohnung einer Freundin, zunächst bis März. Wie es dann weiter geht, wissen sie noch nicht.
Probleme mit der Versicherung
Die Gebäudeversicherung von Rosinke will nicht zahlen, weil die darin enthaltene Elementarschadenversicherung eine Sturmflut ausdrücklich ausschließt. Der Streitpunkt ist die Frage, ob die Sturmflut die Ursache für den Schaden ist. „Wenn auch das Hochwasser in der Schlei zum Ausschlussgrund Sturmflut gehören sollte, sind wir bei Vertragsabschluss nicht gut aufgeklärt worden. Wir haben ja bewusst die Elementarschadenversicherung abgeschlossen, um vor Hochwasser aus der Schlei geschützt zu sein. Und wo sonst soll es herkommen, wenn nicht aus der Ostsee?“ Anwälte kämpfen zurzeit ehrenamtlich für die Ansprüche der Versicherten – Ausgang offen.
Die Kfz-Versicherungen seien kulanter, weiß Rosinke. Die haben Kraftfahrzeuge, welche nicht mehr rechtzeitig in Sicherheit gebracht werden konnten, inzwischen ersetzt. Beim Härtefallfonds des Landes konnte Rosinke noch keinen Antrag stellen. „Noch sind die Kriterien nicht klar.“ Schlecht zu sprechen ist sie auf den Bund, der nach dieser Katastrophe nicht helfen will. „Das kann doch nicht sein, nur weil hier weniger Menschen direkt betroffen sind als etwa im Ahrtal.“
Spendenaktion der Stadt Arnis
Bleibt vorerst die Spendenaktion der Stadt Arnis, die Sandra Hille koordiniert. „Daran haben sich auch viele Feriengäste beteiligt“, erklärt sie. 350.000 € sind inzwischen zusammengekommen – viel für die 273 Einwohner (Stand 2022) der kleinen Stadt, aber für 40 zum Teil schwer geschädigte Häuser eher ein Tropfen auf den heißen Stein. Rosinke ist dankbar für die Hilfsbereitschaft der Mitbürger.
Die Spendenaktion der Stadt Arnis läuft weiter. Sandra Hille erklärt zum Spendenzweck: „Es geht uns um die Härtefälle. Diese unterstützen wir mit den gesammelten Geldern. Alle Spenden kommen an, und erste Teilzahlungen wurden bereits geleistet. Selbst wenn eine Elementarversicherung besteht zahlt diese nicht. Das Land hat es noch nicht geschafft, eine Härtefallregelung zu schaffen. Aktuell werden nur Darlehen mit kurzer Laufzeit und hohen Tilgungsraten angeboten. Das ist unmöglich abzubilden für Menschen, denen die Stromrechnungen aufgrund der Trockengeräte gerade die Haare vom Kopf fressen. Natürlich fühlen sich diese Menschen allein gelassen.“
Informationen zur Hilfe des Landes Schleswig-Holstein bei Schäden durch die Ostseeflut unter https://t1p.de/864jz