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„Er hatte einen schönen Blick auf die Dinge“

Regisseurin Sönje Storm über ihren ersten Kinofilm „Die toten Vögel sind oben“ und den Nachlass ihres Urgroßvaters
Von Iris Jaeger
Im Anzug und mit Hut stellte sich Bauer Jürgen Mahrt in den Farn und lauschte den Vögeln.  Fotos: stormfilm produktion

„Der Mann im Wald ist Jürgen Friedrich Mahrt. Er war Bauer in Schleswig-Holstein. Aber statt wie die anderen Bauern seine Felder zu bestellen, zog er sich einen Anzug an, setzte einen Hut auf, stellte sich in eine Farn-Gruppe und hörte den Vögeln zu. Der Bauer Jürgen Mahrt war mein Urgroßvater.“

Mit diesen Worten beginnt der Kino-Dokumentarfilm „Die toten Vögel sind oben“ von Regisseurin und Produzentin Sönje Storm, der kommende Woche in den Kinos startet. In diesem Film widmet sie sich dem naturkundlichen Nachlass ihres Urgroßvaters Jürgen Friedrich Mahrt (1882-1940) aus Elsdorf (Kreis Rendsburg-Eckernförde).

Ein Nachlass, der noch heute Experten, Wissenschaftler und Nachfahren staunen lässt und dessen Inhalte eindringlich verdeutlichen, wie sehr sich eine Landschaft in mehr als hundert Jahren verändern kann. 350 präparierte Vögel, 3.000 Schmetterlinge, Pilze, Käfer und Raupen, fast 8.000 Fotos mit Waldmotiven und Lichtstimmungen zu allen Jahreszeiten, Fotos von Nestern, Vögeln, Schmetterlingen, Käfern, aber auch von Menschen in ihrem Dorf- und Bauernalltag der 1920er und -30er Jahre zeugen von Akribie, Obsession, Poesie und Leidenschaft. Viele der Fotos hat Mahrt in anscheinend stunden- oder gar monatelanger Arbeit von Hand nachkoloriert. Sönje Storm zeigt im Film viele dieser Bilder und Funde und unterlegt sie mit Tönen und Musik, um dem naturkundlichen Ansinnen ihres Urgroßvaters nachzuspüren und diese Stimmung auf die Zuschauer zu übertragen. Ergänzt werden die Bilder durch Interviews, O-Töne, Einschätzungen und Erfahrungsberichte.

Mitarbeiter des Museums der Natur Hamburg sichten die Tiersammlung auf dem Dachboden in Hohn.

Was war das für ein Mensch? Was hat ihn bewegt, was ging in seinem Kopf herum? „Ich kannte ihn nicht, aber er ist eine so spannende Figur. Ich habe versucht, mich in ihn hineinzuversetzen, und kann nur mutmaßen, welche Gedanken er gehabt haben mag, zum Beispiel als er in den Ersten Weltkrieg gezogen ist, aber auch danach, als er mit den schrecklichen Erlebnissen wieder ins ländliche Leben zurückkehrte. Ich werde oft gefragt, wie er war. Das kann ich nicht beantworten und mache das auch im Film nicht. Ich zeige, was er gesammelt hat, ich erzähle die Hintergründe, lasse die Fotos und Exponate von Experten einschätzen“, erklärt die Regisseurin.

Die Idee, über Jürgen Mahrt und seine Sammlung einen Film zu machen, entstand erst allmählich. „Der Nachlass ist in der Familie zweigeteilt. Ein Teil der Familie hat die Tiere geerbt, mein Teil der Familie hat den Fotonachlass erhalten“, erinnert sich Sönje Storm. „Mein Vater Hans Hermann Storm hat mit vielen dieser Fotos gearbeitet und in den 1980er und -90er Jahren 17 Bildbände mit ihnen herausgebracht. Er hat sich dabei auf die Fotos konzentriert, auf denen man landwirtschaftliche Arbeiten sieht, das Leben auf dem Land. Er fragte mich, ob ich mir vorstellen könnte, mit dem Archiv auch etwas anzufangen. Mein erster Gedanke war ‚Nein‘, denn es schien durch die Bildbände alles auserzählt. Aber dann habe ich doch noch mal in das Archiv geschaut und so den Teil des Fotonachlasses entdeckt, mit dem mein Vater nicht gearbeitet hatte. Das waren all die naturkundlichen Fotos. Das war neu und spannend für mich“, erzählt Sönje Storm.

Präparatoren im Museum der Natur in Hamburg begutachten einige der Exponate von Mahrt. Interessant für sie ist es zu sehen, womit die Vögel seinerzeit ausgestopft wurden.

Sie habe dann damit begonnen, in dem Bereich zu recherchieren und Mahrts naturkundliches Tagebuch zu lesen. Dadurch erfuhr sie, dass es auch noch eine Sammlung von Schmetterlingen und anderen Tieren gab. „Dem bin ich nachgegangen und habe diese Sammlung auf einem Dachboden eines Bauernhauses in Hohn gefunden. Dort lag sie fast 25 Jahre.“ Sönje Storm wandte sich an das Museum der Natur in Hamburg und fragte, ob man dort Interesse an der Sammlung habe. Tatsächlich kannte man dort die Sammlung aus historischen Publikationen, wusste aber nicht, dass sie noch existierte. „Wir sind dann zusammen da hingefahren und die Experten von dem Museum haben die Präparate und Dioramen anschließend gesichtet. Das haben wir uninszeniert mit der Kamera verfolgt“, berichtet Storm. Das Museum erklärte sich bereit, die Sammlung in seinen Bestand zu übernehmen, bietet sie ihm doch die Gelegenheit, daran zu forschen. „Denn der Großteil der durch meinen Urgroßvater gefundenen Arten ist inzwischen ausgestorben, stark gefährdet oder aus dieser Region verschwunden. Allein von den Schmetterlingen, die er damals gesammelt hat, sind 40 bis 50 Prozent ausgestorben.“

Und so habe sich der Film im Laufe der Produktionsjahre entwickelt. „Je mehr ich für meinen Film über meinen Urgroßvater recherchierte, die Geschichten über ihn von meiner Familie erzählt bekam und in seine Sammlungen eintauchte, umso mehr habe ich ihn entdeckt, über seine Fotos ein Gefühl für ihn entwickelt. Ich mochte ihn von Anfang an und finde, er hatte einen schönen Blick auf die Dinge, auf die Menschen, die Tiere und die Landschaft. Mir gefällt die Art und Weise, wie er Menschen fotografierte. Er hatte einen universellen Blick auf alles, was kreucht und fleucht“, so Storm.

Die Schmetterlingssammlung wird aufbereitet. Viele der von Mahrt gefundenen Arten sind bereits ausgestorben.

Aber er hatte auch einen Blick für die Veränderungen in seiner Umgebung. Er begann 1919 nach seiner Rückkehr aus dem Ersten Weltkrieg nicht nur zu dokumentieren, was da war, sondern zunehmend auch das, was verschwand, durch Waldrodung, das Trockenlegen der Moore und die zunehmende Technisierung auch in der Landwirtschaft. Täglich ging er ins Elsdorfer Gehege, um zu fotografieren, oder fuhr mit seinem Fahrrad in einem Radius von zirka 30 km um Elsdorf herum seine Routen ab, fuhr zum Hohner See oder nach Sophienhamm ins ­Hartshoper Moor. Seine Eindrücke hielt er in seinem naturkundlichen Tagebuch fest.

Bestand anfangs noch die Idee, die Mahrt-Geschichten mit dem Zeithorizont des Ersten Weltkriegs sowie den Jahren davor und danach zu verbinden, wurde diese zunehmend durch die Themen Artenrückgang und erste klimatische Veränderungen ersetzt. „Das hat sich so ergeben, seine Sammlung ist wie eine Wundertüte“, so Storm. Jürgen Friedrich Mahrt war aber in erster Linie Bauer, der einen Hof in Elsdorf bewirtschaftete und von klein auf mit der Natur und ihren Gegebenheiten vertraut war. „Die Landwirte von damals hatten noch ein ungeheures Wissen, weil sie noch so naturnah gearbeitet haben“, so Storm.

Nur dass Mahrt dann irgendwann, statt frühmorgens wie die anderen Bauern aufs Feld zu gehen und die Kühe zu melken, mit dem Kescher durch die Eiderwiesen lief, um Schmetterlinge zu fangen, und neben der Hofbewirtschaftung seinem naturkundlichen Interesse nachging. Er übergab seinen Hof dann auch früh an seinen damals 20-jährigen Sohn, um sich ganz seiner naturkundlichen Arbeit zu widmen. „Und er tat das, was für einen Bauern damals eigentlich undenkbar war: Er verkaufte Land, um sich von dem Geld eine Fotokamera samt Ausrüstung zu kaufen und eine Dunkelkammer einzurichten.“ Es gebe so viele Geschichten über ihn, die man sich in ihrer Familie bis heute erzähle. „Zum Beispiel, dass er mit seinem Fahrrad bis an die schweizerisch-italienische Grenze gefahren ist, um einem ebenfalls naturkundlich interessierten Freund und Sammler einen seltenen Schmetterling zu zeigen, den er gefunden hatte, und sich mit ihm auszutauschen.“

1928 tat er wiederum etwas, das im Dorf vermutlich zunächst für Kopfschütteln sorgte: Er räumte das Obergeschoss seines Hauses aus und stellte zimmergroße Dioramen auf, in denen er seine präparierten Vögel in Naturlandschaften hineinstellte und die Wände bemalte. Die ersten Schulklassen aus dem Dorf kamen zu Besuch, dann wurden aus dem ganzen Land Schulausflüge dorthin gemacht. „Noch heute werde ich von Leuten angesprochen, die als Kind da waren. Bis 1966 gab es das private Museum“, so Storm. „Und vielleicht war man am Ende doch ein wenig stolz auf ihn im Dorf, dass er etwas geschaffen hatte, was Anklang fand und respektiert wurde“, hofft Sönje Storm.

Info

Kinostart für den Film „Die toten Vögel sind oben“ ist am Donnerstag, 31. August, unter anderem im Rendsburger Kino Schauburg. Eine Preview mit Filmgespräch findet am Dienstag, 29. August, in der Schauburg in Rendsburg statt. Alle Kinotermine bundesweit sowie weitere Informationen und Trailer unter ­realfictionfilme.de/die-toten-voegel-sind-oben.html

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