Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir (Grüne) spricht von einem Kompromiss zugunsten der Ernährungssicherung. Am Freitag, 5. August, hat er den Ländern seinen in der Bundesregierung abgestimmten Vorschlag zur Umsetzung der Kommissionsentscheidung zum Aussetzen von Fruchtwechsel und Flächenstilllegung unterbreitet und einer Aussetzung für 2023 zugestimmt.
Die Landwirtschaft in Deutschland habe ein Angebot gemacht, durch Beibehalten der Produktion die Getreidemärkte zu beruhigen, sagte Özdemir zur Vorstellung seines Vorschlages. Die EU hatte in der Woche zuvor den Rahmen für die Umsetzung geschaffen.
Der Vorschlag des Bundeslandwirtschaftsministeriums lautet: Die erstmalige verpflichtende Flächenstilllegung soll im kommenden Jahr ausgesetzt werden. Stattdessen soll weiterhin ein landwirtschaftlicher Anbau möglich sein, allerdings nur von Getreide (ohne Mais), Sonnenblumen und Hülsenfrüchten (ohne Soja). Das gilt nur für die Flächen, die nicht bereits 2021 und 2022 als brachliegendes Ackerland ausgewiesen waren. Die bestehenden Artenvielfaltsflächen werden dadurch weiterhin geschützt und können ihre Leistung für Natur- und Artenschutz sowie eine nachhaltige Landwirtschaft erbringen. Wissenschaftliche Berechnungen gehen davon aus, dass damit etwa 100.000 bis 180.000 ha Acker weiterhin für die Getreideproduktion zur Verfügung stehen. Damit können etwa 600.000 bis 1 Mio. t Getreide zusätzlich produziert werden.
Die Regelung zum Fruchtwechsel soll einmalig im Jahr 2023 ausgesetzt werden. Damit können Landwirte in Deutschland auch im Jahr 2023 Weizen nach Weizen anbauen. In den Vorjahren war dies auf etwa 380.000 ha der Fall. Nach wissenschaftlichen Berechnungen könnten damit bis zu 3,4 Mio. t Weizen mehr erzeugt werden.
Özdemir betonte, auf diese Art und Weise gelinge es am besten, die Getreideerträge in Deutschland konstant zu halten und damit zur Stabilität der Weltmärkte beizutragen.
Schwarz begrüßt Vorschlag aus dem BMEL
Landwirtschaftsminister Werner Schwarz (CDU) sagte in einer Stellungnahme: „Ich begrüße den Vorschlag des Bundeslandwirtschaftsministeriums zur temporären Aussetzung der Flächenstilllegungen und zum Fruchtwechsel ausdrücklich und werde diesem zustimmen. Nachdem ich auf der Sonder-Agrarministerkonferenz Ende Juli auf mögliche Fallstricke für die Landwirtinnen und Landwirte im Land aufmerksam gemacht habe, konnten ein Großteil der offenen Fragen in intensiven Bund-Länder Gesprächen ausgeräumt werden. Die Landwirtinnen und Landwirte im Land haben keine Nachteile bei der Inanspruchnahme der Ausnahmeregelung zu befürchten. Das war mir wichtig!“ Lediglich ein Hinweis fehlt in der aktuellen Beschlussvorlage: Trotz der Ausnahmeregelung muss spätestens im dritten Jahr auf jeder Fläche eine andere Kultur angebaut werden. Die Anwendung der Ausnahmeregelung unterbricht diese Anforderung beim Fruchtwechsel nicht.
Das Einlenken von Bundeslandwirtschaftsminister Özdemir bei Stilllegung und Fruchtwechsel ist erwartungsgemäß durchwachsen aufgenommen worden.
Der Deutsche Bauernverband (DBV) begrüßte die Entscheidung des Ministers. Diese war nach den Worten von DBV-Präsident Joachim Rukwied „überfällig und kommt in letzter Minute“. Er wies darauf hin, dass die Bauern bereits mit der Anbauplanung für das kommende Jahr begonnen hätten und Planungssicherheit brauchten.
Sichere Versorgung braucht mehr
Eine Aussetzung für nur ein Jahr hält Rukwied deshalb für „ sicherlich nicht ausreichend“. Um weiterhin eine sichere Lebensmittelversorgung gewährleisten und in Krisenzeiten reagieren zu können, müssten die Bauern alle Flächen nutzen können, auf denen es landwirtschaftlich sinnvoll sei. „Die Bundesländer müssen dies jetzt zügig bestätigen“, forderte der DBV-Präsident.
Währenddessen warf Greenpeace Özdemir vor, mit der Freigabe von Brachflächen zum Brotgetreideanbau dem Druck der Agrarlobby nachgegeben zu haben.
Greenpeace-Landwirtschaftsreferent Matthias Lambrecht monierte, dass die ohnehin viel zu geringen Flächen zum Schutz der Artenvielfalt in der Landwirtschaft wirtschaftlichen Interessen geopfert werden sollten. Nach seiner Auffassung ist die Ernährungssicherung in Kriegszeiten nur ein Vorwand, um wertvolle Biotope unterzupflügen. Dort angebauter Weizen werde erst im nächsten Jahr und zudem in nicht ausreichender Menge zur Verfügung stehen, um der akuten globalen Hungerkrise wirkungsvoll zu begegnen. Sinnvoller wäre Lambrecht zufolge ein konsequenter Ausstieg aus der Produktion von Biosprit.
FDP sieht erfolgreiche Überzeugungsarbeit
„Es ist gut, dass Cem Özdemir letztlich erkannt hat, wie ernst die globale Hungerkrise ist, und dass Landwirten jetzt ermöglicht werden soll, mehr Getreide anzubauen“, konstatierte die stellvertretende Vorsitzende der FDP-Bundestagsfraktion, Carina Konrad. Nach ihrer Einschätzung haben „die Überzeugungsarbeit und die zahlreichen Diskussionen in der Koalition sich in diesem Punkt gelohnt“. Nun müssten die Regelungen schnell und rechtssicher umgesetzt werden, denn die Aussaat stehe unmittelbar bevor, mahnte Konrad.
Umweltorganisationen kritisieren Özdemirs Vorschläge scharf. Der Naturschutzbund Deutschland (Nabu) sprach von einem „Armutszeugnis“ für die deutsche Landwirtschaftspolitik. „Es ist völlig unverständlich, weshalb die für 2023 neu vorgesehenen Biodiversitätsflächen, die zudem ein geringes Ertragspotenzial aufweisen, dem Anbau von Getreide weichen sollen“, sagte Nabu-Präsident Jörg-Andreas Krüger. Ohne diese Rückzugsräume für Insekten oder Vögel in der ausgeräumten Agrarlandschaft würden vielmehr die Ökosysteme weiter geschwächt, ohne die eine Ernährungssicherung langfristig undenkbar sei. Nach seinen Angaben könnten durch die Ausnahmeregelung zwischen 600.000 t und 1 Mio. t Getreide zusätzlich erzeugt werden. Produktionssteigerungen in dieser Größenordnung hätten jedoch kaum Einfluss auf den Weltmarktpreise. Von der Getreideernte des Vorjahres würden 25 Mio. t im Futtertrog landen; in der Reduktion dieser Mengen und der Verwendung für Biosprit liege daher der weitaus größere Hebel, um Getreide für die menschliche Ernährung zur Verfügung zu stellen.
Umweltverbände sparen nicht an Kritik
Auch der World Wide Fund for Nature (WWF) nahm den Treibstoff vom Acker ins Visier. Allein die Herstellung von Agrokraftstoffen in Deutschland nutze rund 2,5 Mio. ha landwirtschaftlicher Fläche weltweit. Die auf diesen Flächen angebauten Rohstoffe wie Weizen, Raps, Mais, Rüben und Soja könnten auch zur menschlichen und tierischen Ernährung verwendet werden.
„Bundesminister Cem Özdemir beugt sich offenbar dem Druck der Agrarlobby“, beklagte der agrarpolitische Koordinator des WWF, Johann Rathke. Nach seinen Worten wäre es sinnvoller, einen Sofortausstieg aus Agrokraftstoffen umzusetzen und unverzüglich die Weichen für eine ambitionierte Ernährungswende zu stellen. Stattdessen wähle die Bundesregierung „eine Variante, die erst in einem Jahr kaum Mehrertrag bringt, dafür aber die Artenkrise in der Agrarlandschaft weiter vorantreibt“.
Der Umweltdachverband Deutscher Naturschutzring (DNR) kritisierte eine „rückwärtsgewandte Entscheidung“ und sprach ebenfalls vom Einknicken vor der Agrarlobby. „Resiliente Ernährungssysteme können wir nur erreichen, wenn wir langfristig unsere natürlichen Ressourcen sichern. Anstatt wichtige Umweltstandards aufzugeben, ist es dringend notwendig, ökologisch wertvolle Biodiversitätsflächen in der Agrarlandschaft zu sichern und auszubauen“, betonte DNR-Geschäftsführer Florian Schöne.
Die Deutsche Umwelthilfe (DUH) warf der Bundesregierung vor, gegen den Geist des Koalitionsvertrags zu verstoßen. Die Ampel habe eine ökologischere Agrarpolitik vereinbart, setze nun aber das Gegenteil in die Realität um. Auch die DUH fordert, jegliche Förderung für Agrosprit sofort zu beenden und Flächen für die Lebensmittelproduktion umzuwidmen. age/mbw