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„Ihr seid nicht allein“

Der Verein Verwaiste Eltern und trauernde Geschwister Schleswig-Holstein bietet Hilfe und Orientierung
Von Iris Jaeger
Ende Mai erfolgte der Spatenstich für das Projekt Himmelsbäume Jevenstedt. Der erste Baum ist keinem bestimmten Kind gewidmet, sondern erinnert an alle verstorbenen Kinder. Fotos: Iris Jaeger

Das eigene Kind zu verlieren, ist das Schlimmste, was Eltern passieren kann. Von jetzt auf gleich ist nichts mehr wie es war. Ohnmacht, Trauer und Schmerz bestimmen den Alltag, der zur Herausforderung wird. Seit 20 Jahren bietet der Verein Verwaiste Eltern und trauernde Geschwister Schleswig-Holstein (VESH) mit Beratung, Begleitung, Gruppenangeboten und verschiedenen Projekten Eltern verstorbener Kinder einen Ort der Begegnung und Unterstützung an, begleitet durch die Trauer, gibt Orientierung und schützt vor Isolation, wenn das Umfeld überfordert ist. Jüngst schuf der Verein mit einer weiteren Fläche für Himmelsbäume bei Jevenstedt einen Ort der Einkehr, Stille und Erinnerung.

„Der Weg des Trauerns ist sehr individuell. Es geht auf und ab. Die Trauer kann nur Schritt für Schritt bewältigt werden.“ – So lautet einer der Schilder-Texte der verschiedenen Stationen auf dem Himmelsbäume-Gelände zwischen Jevenstedt und Nienkattbek. Es ist eine kleine Waldlichtung nahe dem historischen Ochsenweg. Friedlich ist es hier und ruhig. Ein Banner zwischen Bäumen macht verwaisten Eltern Hoffnung: „Du bist nicht allein.“

Ein Banner, der verwaisten Eltern Mut macht.

Eine Aussage, die der VESH seit 20 Jahren mit Leben füllt. Denn neben der Trauer über den Verlust des Kindes sind es oft die Hilflosigkeit und Überforderung, die Eltern und Geschwistern zu schaffen machen. Und auch das Umfeld ist überfordert mit der Situation. Freunde, Bekannte, Nachbarn wissen oftmals nicht, wie sie den Eltern begegnen sollen. Aus Angst, etwas Falsches zu sagen oder zu tun, gehen sie den Trauernden aus dem Weg, wechseln die Straßenseite. Das hat Dagmar Steffensen, zweite Vorsitzende im VESH, selbst erlebt. „Mein Milan starb 2015 im Alter von zehn Jahren. Man kann es gar nicht richtig fassen, diese Hilflosigkeit. Anfangs denkt man immer noch, dass er gleich durch die Tür gerannt kommen muss. Oder man findet Wochen später noch dreckige Socken und denkt, vielleicht ist er noch irgendwo? Zu realisieren, dass dem nicht so ist, ist total schwer. Ich brauchte dringend Hilfe, war aber überrascht, dass selbst professionelle Therapeuten mit dem Thema überfordert waren. Ich arbeite als Pädagogin und Beraterin im sozialen Bereich, bin also vom Fach. Doch kam es mir so vor, dass ich allen erklären musste, was ich brauche. Ich dachte damals nur, Leute, ihr sollt mir helfen, nicht umgekehrt.“

Vor drei Jahren stieß sie auf eine VESH-Elterngruppe in Kiel und ging hin. „Es war befreiend, mit Menschen zu sprechen, die einen verstanden und wussten, wie groß das Loch ist, das sich auftut, wenn ein Kind stirbt. Sie konnten die Bedeutung dieser dreckigen Socken verstehen“, berichtet Dagmar Steffensen von ihren Erfahrungen. Sie wisse, dass viele es einfach nur gut meinten, wenn sie sagten, sie wüssten, wie es ihr gehe. „Aber es ist ein Unterschied, ob jemand über etwas spricht oder es tatsächlich selbst erlebt hat.“ Es sei auch hilfreich gewesen, in der Gruppe zu besprechen, dass nichts gegen den Schmerz helfe, „sondern dass es nur darum geht weiterzuatmen. Jeden Tag, immer weiter. Und irgendwann wird es besser, auch wenn man das anfänglich nicht glauben mag.“

Dagmar Steffensen

Es sei ihr wichtig, diese Erfahrungen weiterzugeben und das Thema bekannt zu machen. Zu zeigen, dass es Hilfe gebe, dass es Menschen gebe, die mit dieser Trauer umgehen und Betroffene auf dem Weg zurück ins Leben begleiten könnten. Deshalb arbeite sie jetzt mit im Vorstand des Vereins.
Die Trauer um den Verlust eines Kindes sowie den Tod in die Mitte der Gesellschaft zu rücken, sei eine der Aufgaben des Vereins, erklärte der Vorsitzende Gerd Rullmann beim Spatenstich für das Projekt „Himmelsbäume Jevenstedt“ Ende Mai. Dieses Projekt setzt die Tradition der Himmelsbäume auf der Insel Föhr fort, die 2015 von der damaligen Gemeindepastorin Brigitte Wulff initiiert wurde, nachem Orkan „Christian“ 2013 dort in einer Waldfläche bei Wyk durch umgewehte Bäume eine Fläche für Neuanpflanzungen geschaffen hatte.

„Einen Baum zu pflanzen im Gedenken an ein verstorbenes Kind, als eine Verbindung zwischen Erde und Himmel, ist für betroffene Eltern tröstlich und sinnstiftend. Es ist ein Symbol für die Verbindung des Jenseits mit dem Diesseits und eine Verbindung, die aussagt, dass die Liebe zwischen Eltern und Kindern immer bleibt“, so Gerd Rullmann.
Die Himmelsbaum-Flächen seien ein Ort für alle Menschen, „die wir hier bewusst ansprechen möchten und sie einladen, diese Flächen hier zu besuchen. Wir möchten erreichen, dass nicht betroffene Eltern Betroffenen die Hand reichen. Eltern lassen Eltern nicht allein“, so Rullmann. Eine Japanische Zierkirsche – das ist der Himmelsbaum, den Kathrin und Hans-Josef Würtz für ihren Sohn Eric auf Föhr gepflanzt haben. Eric starb im November 2020 zwei Tage vor seinem 17. Geburtstag bei einem Unfall am Bahnhof Itzehoe. Auch sie suchten aktiv Hilfe und bekamen den Hinweis auf den VESH, mit dessen Unterstützung sie zurück ins Leben fanden.

Ein Netzwerkbaum auf der Fläche der Himmelsbäume Jevenstedt steht für das Miteinander von Menschen und Institutionen, die verwaiste Eltern und trauernde Geschwister begleiten und unterstützen.

Die Arbeit des VESH begann schon weit vor der Vereinsgründung mit einem Impuls im Jahr 1991 und mit der Impulsgeberin Elke Heinen. Sie leitete den Kirchenkreis Schleswig-Flensburg und war mit dem Aufbau einer Mutter-Kind-Gruppe betraut. Als eine der Mütter nicht mehr zu den Gruppenabenden erschien, weil ihr Kind verstorben war, machten sich Fassungslosigkeit und Sprachlosigkeit breit. Elke Heinen rief daraufhin in Schleswig die erste Gruppe für Eltern verstorbener Kinder ins Leben. 1994 gründete sich eine Gruppe für Eltern verstorbener Jugendlicher und jung verstorbener Erwachsener.

Diese Eltern gründete 2004 den Verein Verwaiste Eltern Schleswig. Schon damals gab es Aufgaben und unerwartete Fragen, die zu einer Ausweitung von Angeboten führten und die die Arbeit des Vereins stetig veränderten. Als eine schwangere Italienerin während ihres Urlaubsaufenthaltes in Schleswig ihren Sohn in der 18. Schwangerschaftswoche durch eine plötzliche Frühgeburt tot zur Welt brachte, wurde alles Mögliche versucht, diesem kleinen Wesen eine Bestattung zu gewähren. Als alles geregelt war, war die junge Frau nach Italien verschwunden, und der Junge ging in die übliche Entsorgung im Krankenhaus. Elke Heinen beschloss zusammen mit dem Verein, dass der Junge das letzte Kind gewesen sein sollte, dass diesen Weg gehen musste.

Sie und weitere Eltern gründeten 2005 eine Babygrabstätte mit dem Namen „Garten der Kinder“. Landesweit gibt es mehr als 80 Sternenkinderfelder auf Friedhöfen und in Ruheforsten. Seit 2013 haben Eltern die Möglichkeit, ihrem Sternenkind einen Namen zu geben, der standesamtlich erfasst werden kann, und sie haben ein Recht darauf, ihr Sternenkind zu beerdigen.

Da es keine Särge für diese kleinen Wesen gab, erwuchs daraus die nächste Aufgabe: die Herstellung eines Minisarges. Mittlerweile wird das Modell bundesweit verschickt. Aus dem ortsgebundenen Verein wurde ein landesweit tätiger Verein, es änderten sich die Satzung und das Aufgabenfeld, der Verein wurde umbenannt in VESH. Es folgte die Aufnahme in den Bundesverband, 2011 gründete sich dann ein für die Arbeit des Vereins wichtiges Netzwerk, in dem viele weitere Institutionen mit eingebunden sind. Seit 2014 ist der VESH-Landesverband im Bundesverband.

Der Vereinsvorstand mit Dagmar Steffensen, Gerd Rullmann, Ulrike Schilling und Ole Kosian (v. li.)
Foto: VESH

Neben dem Ehrenamt wurden hauptamtliche Stellen geschaffen, um verwaiste Eltern professionell in ihrer Trauer zu begleiten. Neben einer Schirmherrschaft durch die nun neue Bischöfin Nora Steen im Sprengel Schleswig und Holstein gibt es seit 2019 mit Hans-Tim Hinrichsen, Gitarrist und Sänger der Band Santiano, einen Botschafter für den Verein.

Katharina Grothkopp ist seit 2022 als Bildungsreferentin und Geschäftsstellenleiterin beim VESH. Sie ist Ansprechpartnerin für Erstberatungen von betroffenen Eltern und Geschwistern in der Hauptgeschäftsstelle in Schleswig. Und sie besucht Kitas, Schulen und andere Einrichtungen, um auch Außenstehende für das Thema zu sensibilisieren, „damit verwaiste Eltern nicht allein und haltlos dastehen und mehr Sichtbarkeit bekommen“, so Grothkopp. Wo stehen die Trauernden und was wird gebraucht? Das sind die zentralen Fragen, wenn es darum geht, die bestmögliche Hilfe für die Betroffenen vor Ort zu organisieren und sie an Ansprechpartner im Netzwerk zu vermitteln. Viele der Angebote sind spendenfinanziert.

Auch deshalb sei es wichtig, die Arbeit bekannt zu machen, und die Ansprüche ihrer Arbeit bewusst nach außen anzumelden, so Gerd Rullmann: „Das ist mein Appell: Diese Arbeit muss unterstützt werden, denn sie trägt zur Gesundheitsvorsorge bei und führt Eltern in die Gesellschaft zurück.“

Kontakt: Katharina Grothkopp

Tel.: 0 46 21-9 52 60 70

Friedrichstraße 7

24837 Schleswig

grothkopp@vesh.de

ausführliche Infos unter vesh.de

Sitzgelegenheiten auf der Fläche der Himmelsbäume laden zum Verweilen und Innehalten ein.
Fotos: Iris Jaeger
Jedes Mitglied einer Familie trauert auf seine eigene Art. Nach einem Verlust muss sich das Familiensystem neu ausbalancieren.
Eine der Stationen auf der neuen Fläche ist die Klagemauer. Sie ist ein Ort, an dem all das ausgedrückt werden kann, was verwaisten Eltern und Familien Sorgen macht. Die Klagemauer erträgt alles, auch Wut und Aggression.
In einem Himmelsbrief darf sich alles von der Seele geschrieben werden.
Liebevolles Detail am Netzwerkbaum: Die Raupe, die am Stamm hochklettert.
Die sozialpolitische Sprecherin im Landtag, Birte Pauls, mit VESH-Botschafter sowie Gitarrist und Sänger der Band Santiano, Hans-Timm Hinrichsen
Himmelsleiter, angefertigt vom Künstler Berthold Grzywatz
Foto: Iris Jaeger


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